Abschied aus deinem Schatten
gewünscht, ein solches Lob wäre schon früher einmal erfolgt; sie hätten sich dadurch vielleicht näher kommen können. Doch es war zu spät. Die Phase, in der Jeannes schneidende Kommentare wie ein plötzlicher, schmerzender Sandsturm über sie hinwegfegten und Rowena wie ein Pilz in Claudias Schatten leben musste, war zu dem Zeitpunkt längst vorbei. Rowena hatte sich ein dickes Fell zugelegt und stand auf eigenen Füßen.
Claudia hingegen war nie unabhängig geworden. Das lag nach Rowenas Meinung daran, dass es ihr an der Fähigkeit mangelte, sich alltäglichen Aufgaben wie Kochen oder Putzen zuzuwenden. Faul war sie nicht, sondern es schien eher so, als sehe sie überhaupt nicht ein, sich selbst etwas zu essen zu machen, wenn sie genauso gut in ein Restaurant gehen konnte. Wozu sollte sie sauber machen, wenn sie jemanden auftreiben konnte, der das gegen Bezahlung für sie erledigte? Möglich, dass ihre Mutter nach außen hin nicht sonderlich liebevoll gewirkt hatte, doch dumm war sie nicht gewesen. Wahrscheinlich hatte sie ihre jüngere Tochter klarer durchschaut als irgendein anderer Mensch. Auf jeden Fall hatte sie viel Zeit mit ihr verbracht. Nach Jeannes Tod zog Claudia nicht aus dem Elternhaus aus, sondern reihum von einem Schlafzimmer ins nächste. Schließlich, nicht einmal eine Woche nach der Beerdigung, richtete sie sich in Jeannes Schlafzimmersuite ein.
Der Tod der Mutter ließ Claudia derart haltlos und gramgebeugt zurückt, dass sie, zum zweiten Mal seit Kindertagen, Trost in den Armen der älteren Schwester suchte. Zu ihrer eigenen Überraschung war Rowena nur zu bereit, ihr diesen Zuspruch zu gewähren. Die Stimme des Blutes überwog letzten Endes doch; zwischen den Schwestern bestanden Bande, die beide nicht ganz begriffen. Zudem gab Rowena sich dem Glauben hin, Claudia werde eines Tages ihr Handeln erklären; sie beide würden dann an die alten Zeiten zurückdenken und darüber lachen, was für eine Teufelin Claudia damals gewesen war und welch grausame Spiele sie einst gespielt hatte.
Deshalb war Rowena ins Elternhaus zurückgekehrt, um ihrer Schwester nahe zu sein. Bis spät in die Nacht hatten sie zusammengesessen, und Claudia hatte versucht, ihre Gefühle in Worten auszudrücken.
Ohne ihr übliches Make-up und mit ihren verweinten Augen hatte sie viel jünger als fünfundzwanzig ausgesehen. „Ich weiß”, hatte sie gesagt, „du denkst bestimmt, Mummy und ich hätten uns ständig in den Haaren gelegen. Doch so war es nicht, Ro. Wir sind gemeinsam ausgegangen, zum Club, mal zum Lunch und zum Dinner. Oder einkaufen. Wir kamen gut miteinander aus.”
„Das glaube ich gern.”
„Doch, ehrlich!” bekräftigte Claudia und zupfte dabei am Spitzenbörtchen ihres Seidennachthemds. „Was soll ich bloß ohne sie anfangen?” Angsterfüllt schaute sie in die dunklen Ecken des Zimmers. „Jetzt bin ich ganz allein!”
„Ach was! Du hast doch genügend Freundinnen!”
„Aber wenn ich heimkomme, dann bin ich allein!” Ein gehetzter Ausdruck trat in ihre Augen.
„Dann treffen wir uns eben öfter”, schlug Rowena ihr sanft und mitfühlend vor.
„Ach, das wäre toll, Ro! Wir könnten in die City fahren, uns Shows ansehen, mal zum Dinner ausgehen. Das wäre wirklich schön!”
Rowena hatte sich eingeredet, sie könne sich all dies zumuten, falls es Claudia half. Vielleicht auch, so ihre Hoffnung, führte der Tod der Mutter zu einer Annäherung zwischen den Schwestern. Doch am Ende der gemeinsam verbrachten Woche war es mit dem Frieden vorbei. Claudia konnte einen Ring ihrer Mutter, den sie zu einer Verabredung tragen wollte, nicht finden. Aufgebracht marschierte sie in die Küche und bezichtigte ihre Schwester, sie habe ihn an sich genommen.
Verblüfft über die Absurdität des Vorwurfs, sagte Rowena zu ihr: „Ich trage nie Schmuck, das weißt du doch! Wie, in aller Welt, kommst du also auf den Gedanken, ich hätte Mamas Ring genommen?”
„Mir hat noch nie etwas von dem eingeleuchtet, was du tust”, konterte Claudia. „Aber der Ring ist weg, und die Einzige, die ihn an sich genommen haben kann, bist du! Also, her damit bitte!” Die Arme über der Brust verschränkt, stand sie mit Leichenbittermiene in der Küche und klopfte nervös mit dem Fuß auf den Boden.
Mit einem Mal wusste Rowena genau, was mit ihrer Schwester los war: Claudia bereute es zutiefst, sich ihr anvertraut und sich damit eine Blöße gegeben zu haben. Sie hatte ihre Schwachstellen gezeigt. Da sie aber
Weitere Kostenlose Bücher