Abschied aus deinem Schatten
Bücher nur, um sich die Tochter vom Hals zu schaffen, nicht etwa, weil sie sie liebte.
Ihre Zweifel an Jeannes Mutterliebe waren nach Carys Tod jedoch vorübergehend zerstreut worden. Wie eine Schranke hatte Jeannes Trauer jedermann außer ihren beiden verbliebenen Kindern auf respektvolle Distanz gehalten. Nachdem der Sarg sich langsam in die Grube gesenkt hatte, hatte Jeanne dem offenen Grab den Rücken zugekehrt und ihre Töchter eng an sich gedrückt, während ihr schmaler Körper von lautlosen Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Selbst Claudia verharrte, durch diesen emotionalen Ausbruch tief erschüttert, stumm und reglos in der Umarmung. Und Rowena, die, wenn auch mit Gewissensbissen, diese heftige Art mütterlicher Gefühle genoss und sich gleichzeitig aus tiefstem Herzen den Bruder zurückwünschte, hatte nur einen klaren Gedanken fassen können: Sie liebt uns ja doch!
Bei Carys Beerdigung hatte ihr Vater sich im Hintergrund gehalten, und Rowena hatte ihn erst entdeckt, als alle bereits dabei waren, den Friedhof zu verlassen. Schließlich war sie trotz des Verbots ihrer Mutter hinter ihm hergerannt und hatte ihn eingeholt, als er gerade auf sein Auto zuging. Sie war so außer Atem und so verzweifelt gewesen, dass sie nur an seinem Jackett zupfen konnte, um sich bemerkbar zu machen. Er hatte sich umgedreht, sie gesehen und sich gebückt, um sie in die Arme zu nehmen.
Eng an ihn geschmiegt, flüsterte sie: „Ich vermisse dich so, Daddy! Wann kommst du zurück?”
„Du fehlst mir auch, Mäuschen”, erwiderte er und schob sie dann ein wenig von sich, um sie anzuschauen. „Aber ich komme nicht wieder. Ich kann nicht.”
Seine Augen waren feucht gewesen. Dass er so unglücklich war, hatte sie traurig, einsam und ängstlich gemacht. „Warum nicht? Liebst du uns denn nicht mehr?”
„Aber sicher liebe ich euch. Doch deine Mutter und ich, wir verstehen uns nicht mehr so wie früher. So etwas kommt schon mal vor, Schätzchen. Die Menschen verändern sich, und eines Tages merken sie, dass sie nicht mehr zusammen leben können. Aber ich bin und bleibe dein Vater und werde dich immer lieben. Vergiss das nicht, ja?”
„Hm-hm.”
„Falls du jemals etwas brauchst, dann sagst du mir Bescheid, ja?”
„Okay.”
„Und noch eins, Rowena. Lass dir niemals einreden, du wärst nicht so hübsch wie deine Schwester. Das bist du nämlich doch! Sogar noch hübscher!”
„Mommy meint aber …”
„Egal, was sie meint!
Ich
jedenfalls sage, du bist hübsch! In Ordnung?”
„Okay.”
Er war aufgestanden und hatte ihr mit der Hand übers Haar gestrichen. „Ich hab dich lieb, mein Kleines, und ich besuche dich bald.”
„Versprochen?”
„Versprochen.”
Dann war er gegangen. Rowena hatte ihm einen Augenblick nachgesehen und ihm dann nachgerufen: „Ich liebe dich auch, Daddy!” Er hatte über die Schulter zurückgeschaut und ihr einen Luftkuss zugehaucht.
Trotz der Rufe ihrer Mutter war sie am Fleck stehen geblieben, bis das Auto ihres Vaters ihren Blicken entschwunden war. Jedes Mal, wenn in den Monaten danach das Telefon läutete, hatte sie erwartet, ihr Vater rufe an. Doch er meldete sich nicht und kam auch nicht zu Besuch. Sie hatte ihn niemals wieder gesehen.
Mit der Zeit betrachtete Rowena ihre Mutter als eine Frau, der man nie ein Gefühl für Herzensdinge nahe gebracht hatte, die sich folglich sehr stark an Oberflächlichem ausrichtete und keinerlei Neigung zeigte, einmal in die Tiefe zu blicken. Sie meinte es gut, doch fehlte es ihr an der nötigen Selbstkritik, um zu erkennen, wann ihre großzügigen Gesten fehl am Platze waren. Nach und nach empfand Rowena für ihre Mutter zwar Achtung und bis zu einem gewissen Grad sogar Liebe, doch sie fühlte sich nicht zu ihr hingezogen.
Gegen Ende ihres Lebens hatte Jeanne vor Claudias hartnäckigem und unverhülltem Drängen kapituliert, das Testament zugunsten ihrer jüngeren Tochter geändert und ihr den Hauptanteil des Nachlasses vererbt. Zu Rowena hatte sie nur Stunden vor ihrem Tod gesagt: „Du wirst immer zurechtkommen, Claudia aber nicht. Bitte, nimm es mir nicht übel, Liebes. Sie braucht das Geld dringender als du. Das verstehst du doch, oder?”
Obwohl Rowena gekränkt war, hatte sie trotzdem geantwortet: „Das verstehe ich vollkommen.”
„Du bist eine brave Frau”, hatte Jeanne daraufhin gesagt. „Ich war immer stolz auf dich.”
Das war das einzige Mal, dass ihre Mutter sie offen gelobt hatte. Unwillkürlich hatte Rowena sich
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