Abschied aus deinem Schatten
losreißen. Ein bislang unbekannter, lüsterner Aspekt ihres eigenen Ich hielt sie vor dem Bildschirm gefangen, und je länger sie hinschaute, desto mehr wuchsen Scham und Schuldgefühle. Verglichen mit Claudias sexuellen Erfahrungen waren ihre eigenen eher nüchtern und alles andere als eine Offenbarung gewesen. Als sie sich nun den Film anschaute, hatte sie das Gefühl, als Frau versagt zu haben, auch wenn das natürlich Unsinn war. Sexuelle Erfolge sagten nicht das Geringste über den Wert einer Person aus, das galt für Männer und Frauen gleichermaßen. Ihre Logik und ihr Verstand verrieten ihr, dass sie ein besserer Mensch war, als es Claudia jemals hätte vorgeben können. Doch je länger sie sich die Kassette anschaute, desto stärker wurde ihr Gefühl, nicht attraktiv und begehrenswert genug zu sein. Es war, als werfe Claudia noch von jenseits des Grabes ihren Schatten, als beraube sie ihre Schwester auch noch um deren letzten kleinen, kostbaren Schatz: ihr Selbstvertrauen.
Auf dem Monitor erreichte Claudias Partner zuckend den Höhepunkt und ließ sich dann schwer auf sie niederfallen. Nachdem etwa eine Minute vergangen war, löste er sich von ihr, rollte sich vom Bett herunter und verschwand außerhalb des Aufnahmewinkels. Rowena fuhr zusammen und rang nach Luft, denn nun drehte Claudia sich um und lächelte in die Kamera. Nach ein paar Sekunden löste sich alles in Schneegeflimmer auf.
Während das Band zurückspulte, hockte Rowena mit pochendem Herzen da und versuchte sich einzureden, dass das Lächeln nie für ihre Augen bestimmt gewesen war. Aber zu ihrem Entsetzen musste sie sich eingestehen, dass es durchaus möglich war; als wolle Claudia ihr noch einen allerletzten Hieb versetzen und sagen: „So, da hast du’s!”
Verstört ging sie sich in die Küche, goss einen Fingerbreit Wodka in ein Glas und kippte das scharfe Getränk hinunter, wobei sie schmerzhaft das Gesicht verzog. Danach ging sie ins Wohnzimmer, fischte die Kassette vom Boden und trug sie in die Küche zurück. Sie hob die rückwärtige Klappe über der Bandführung an, hakte den Finger um das Band und zerrte es aus dem Gehäuse. Mit einer Schere schnitt sie das Magnetband in Fetzen, wischte diese in einen kleinen Müllbeutel und brachte ihn hinaus zum Müllcontainer. Dann kehrte sie, nach wie vor um Fassung ringend, ins Haus zurück, schenkte sich einen zweiten Wodka ein und stieg dann ins Obergeschoss, um sich schlafen zu legen. Mittlerweile war sie sich, was Reids Diagnose oder Claudias Selbstmord anging, schon nicht mehr so sicher. Das Band hatte alles verändert.
7. KAPITEL
N icht länger das Antlitz ihrer toten Schwester erschien nun immer wieder vor Rowenas geistigem Auge, sondern das Bild von Claudia, wie sie sich umdrehte und sie auf jene anzügliche, selbstzufriedene Weise anlächelte, ja angrinste. Erneut stellten sich die Schlafstörungen ein, da in Rowenas Träumen eine nackte Claudia mit einer ganzen Reihe von Männern erschien, oder sie träumte von einem unbekannten Mann, der Claudias Tod geschickt als Selbstmord tarnte. Anthony Reids Diagnose traf nun nicht mehr zu – offenbar passte sie nicht zu einer Frau, die im Stande war, ihre sexuellen Eskapaden zu filmen. Wieder und wieder ging Rowena die Szene durch den Kopf, in der sie ihre tote Schwester auf dem Bett hatte liegen sehen, und mehr denn je kam ihr die Flasche Chivas Regal nicht geheuer vor. In einem Punkt allerdings stimmte sie Reid zu: dass es alles andere als leicht war, selbst die vertrautesten Menschen in ihrem innersten Wesen richtig zu kennen. Es sah ganz danach aus, als habe ihre Schwester viele verborgene Seiten gehabt, von denen Rowena nichts geahnt hatte.
Sie durchsuchte das Haus und fand den Karton, der als Verpackung für eine Videokamera gedient hatte, nicht jedoch die Kamera selbst. Nebenbei stieß Rowena bei ihrer Suche auf einen Haufen Gerümpel, den sie umgehend zum Müllabladeplatz transportierte. Die Kamera hingegen fand sich weder im Kofferraum von Claudias Mercedes noch im Büro des Restaurants, das sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit überprüfte.
In ihrer begrenzten Freizeit wühlte sie sich durch Claudias Video-Sammlung und entdeckte dabei zwei weitere Privatstreifen mit deren Darbietungen. Obwohl sie sich für sich selbst und für ihre Schwester schämte und sich bei jedem Film fragte, wozu das Ganze eigentlich gut sein sollte, sah sie sich beide Bänder bis zum Ende und bis zu Claudias bezeichnendem Abschlusslächeln
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