Abschied aus deinem Schatten
Schwächen sonst bei anderen schonungslos und voller Verachtung aufdeckte, musste sie ihren eigenen Fehler nun ausmerzen. Indem sie ihre Schwester massiv beschuldigte, konnte sie sich selbst wieder in die Position der Stärkeren zurückversetzen – eine durchsichtige und armselige Tour, doch das machte die Sache keineswegs erträglicher.
Rowena geriet durch Claudias erneutes Ränkespiel derart in Rage, dass sie das Blut in den Ohren rauschen hörte. „Weißt du was?” fauchte sie ihre Schwester an. „Falls du diesen Ring findest – und ich zweifle keine Sekunde daran –, dann tu mir einen Gefallen: Steck ihn dir sonst wohin!” Mit diesen Worten drehte sie sich um, packte ihre Sachen und verließ wutentbrannt das Haus. Claudia folgte ihr und sah von der Haustür aus zu, wie Rowena ihre Tasche in den Kofferraum des Autos warf und dann die Seitentür aufschloss.
„Ich begreife nicht, weshalb du so ein Theater machst, Rowena! Ständig übertreibst du! Wenn du nicht aufpasst, trifft dich eines Tages noch der Schlag! Du musst dringend mal deinen schrecklichen Jähzorn zügeln!”
Außer sich vor Empörung hatte Rowena es mit knapper Not geschafft, nach Hause zu fahren. Ungefähr eine Stunde lang war sie in Tränen aufgelöst durch die Wohnung gestampft, hatte wütend mit allen möglichen Sachen um sich geworfen und sich wie eine Vollidiotin gefühlt. Nach einem ordentlichen Schluck Wodka pur hatte sie sich dann allmählich beruhigt und sich geschworen, sich nie wieder von Claudia übervorteilen zu lassen.
Während Rowena nun durch ihr Elternhaus streifte, grübelte sie über das nach, was sie gelesen und was Reid ihr erklärt hatte, bemüht, es mit den in jedem Zimmer aufsteigenden Erinnerungen in Übereinstimmung zu bringen. Oben auf dem Dachboden, wo der Staub im Licht einer nackten Glühlampe tanzte, die an der Decke hing, hatte sie mit ihrem Bruder an regnerischen Nachmittagen stundenlang Cowboy und Indianer oder Brettspiele gespielt. Zuweilen hatten sie sich auch gegenseitig etwas vorgelesen. Die Erinnerung entlockte ihr ein Lächeln. Cary war ein ausgesprochen netter Junge gewesen, mit der angeborenen Großzügigkeit der Mutter und der Herzlichkeit des Vaters, draufgängerisch, für jeden Spaß zu haben, unternehmungslustig und gutmütig. Sogar jetzt, nach mehr als dreißig Jahren, vermisste sie immer noch sein Lachen, seine unerschöpfliche Energie, seine niedliche Art. Es war, als habe man ihr mit Carys Tod einen unsichtbaren Körperteil amputiert, dessen Phantomschmerzen sie nach wie vor spürte.
Sie stieg die Treppe vom Dachboden herunter und blieb ihm Türrahmen zu Claudias erstem Kinderzimmer stehen. Wenn sie ihre Augen ein wenig verengte, konnte sie Claudia direkt vor sich sehen, mit acht, mit elf, mit vierzehn Jahren, vor Schreck zusammenzuckend, weil man sie wieder einmal bei einer ihrer klammheimlichen Gaunereien überraschte. Ihr Zimmer war eine Schatzkammer in Miniaturausgabe gewesen, eine Art Depot für all das, was sie entweder ihrer Mutter abgeschwätzt oder aus den Zimmern ihrer Geschwister stibitzt hatte. Als Kind war sie eine hinterlistige Diebin gewesen. Später als Erwachsene hatte sie sich einen Spaß daraus gemacht, die Gefühle ihrer Mitmenschen bloßzustellen und zu manipulieren.
Claudia hatte ihr ganzes Leben stets genau nach dem ausgerichtet, was andere ihrem Gefühl nach wollten oder brauchten. Sie besaß ein untrügliches Gespür für die Schwächen der Menschen und bohrte unbarmherzig darin herum. Spaß verstand sie nicht, und zeigte sie einmal Feingefühl, war dieses rein oberflächlich. Claudia war nie erwachsen geworden, sondern eine Achtjährige geblieben, allerdings eine mit Geld, Charme und perfektionierten schauspielerischen Fähigkeiten. Insofern traf Reids Profil genau auf ihre Persönlichkeit zu. Möglicherweise hatte sich Claudia also seit dem Tod ihrer Mutter ganz allein mit bloßer Unverfrorenheit durchgemogelt und war damit schließlich frontal vor die Wand gelaufen. Das kam in etwa hin, auch wenn noch einige Fragen offen blieben. Mittlerweile neigte Rowena mehr und mehr zu der Überzeugung, dass ihre Schwester letztlich doch ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte.
Erleichtert darüber, dass sie sich zu dieser Erkenntnis durchgerungen hatte, setzte Rowena sich an den Küchentisch, um ein frühes Abendessen aus Diätcola und einem Gurkensandwich einzunehmen. Danach beschloss sie, sich einen Film auf Video anzusehen und Claudias trauriges Ende endlich einmal aus
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