Abschied aus deinem Schatten
Frauen sich ihm wahrscheinlich reihenweise an den Hals warfen.
„Alte Filme, ja”, bestätigte er. „Ich habe Sie gar nicht kommen hören! Sie schleichen ja geradezu auf Samtpfötchen daher!”
„Wie der Nebel. Heimlich, still und leise.”
Er lachte verhalten und wandte sich wieder den Kassettenreihen zu.
„Die meisten davon gehörten meiner Schwester. Offenbar hatte sie ebenfalls einen Narren an alten Kinofilmen gefressen.” Claudia war ganz verrückt danach, dachte sie. Besonders nach der Verpackung.
„Und Sie nicht?”
„Doch, doch. Nur gekauft habe ich mir nie welche, sondern alle ausgeliehen.” Rowena verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Wand.
Er griff nach der Lalique-Schale und hielt sie gegen das Licht. „Sehr hübsches Design!” sagte er bewundernd.
„Geburtstagsgeschenk von der Restaurantbelegschaft.”
„Teufel auch! Habe ich Ihren Geburtstag verpasst?”
„Um Wochen!”
„So ein Pech! Wenn ich’s gewusst hätte, hätte ich Ihnen eine schöne Gary-Larson-Grußkarte geschickt. Ihre Mitarbeiter halten offensichtlich große Stücke auf Sie. Meine geschiedene Frau war Lalique-Sammlerin. Kostspieliges Hobby.”
„Waren Sie lange verheiratet?”
„Neun Jahre.”
„Sammeln Sie irgendwas?” wollte sie wissen. „Von Großspielzeug natürlich abgesehen.”
„Ähnlich wie Sie lediglich Bücher und CDs. Andere Besitztümer haben mich nie sonderlich interessiert. Waren Sie verheiratet?”
„Nein.” Sie löste die verschränkten Arme und stieß sich von der Wand ab. „Kommen Sie, der Kaffee ist fertig. Jetzt gibt’s die fabelhafte Torte.”
Zum zweiten Mal ging er ihr in die Küche nach. Es kam Rowena so vor, als sei das Haus kleiner, seit er da war. Vielleicht lag es auch nur daran, dass seine bloße Anwesenheit ihr Denkvermögen einschränkte.
„Dies ist eins der wenigen Häuser, in denen man keine Klaustrophobie bekommt”, bemerkte er und nahm am Tisch Platz, während sie den Kaffee einschenkte. „Sie haben die Küche erst kürzlich renovieren lassen, stimmt’s?”
„Woher wissen Sie das?” Schlagartig meldete sich ihr Misstrauen zurück.
„Es riecht hier noch ganz neu.”
Sie hielt beim Einschenken inne und hob schnuppernd den Kopf. „Außer dem Kaffeearoma rieche ich nichts.”
„Die Schränke und die Arbeitsplatten sind offensichtlich neu”, erklärte er. „Saubere Arbeit. Wollten Sie denn mal heiraten?”
„Als ich etwa zwölf war und es noch nicht besser wusste.”
Wie auf dem Boot legte er den Kopf in den Nacken und lachte schallend los. „Und wann haben Sie es sich anders überlegt?”
Sie zuckte mit den Achseln. „Irgendwann zwischen damals und heute.”
„Mutig von Ihnen, dass Sie sich dem gesellschaftlichen Druck nicht beugten.”
„Sie gehen wahrscheinlich davon aus, dass mich jemand wollte.”
Mit einem skeptischen Ausdruck auf dem Gesicht fragte er: „Sie meinen, es wollte Sie keiner?”
„Genau.” Peinlich berührt merkte sie, wie sie rot wurde. „Ich habe allerdings nicht gerade überaktiv nach Kandidaten gesucht.”
„Warum nicht?”
„Kann sein, dass unsere Familienverhältnisse keinen sonderlich positiven Eindruck bei mir hinterließen.”
„Würden Sie das näher erläutern?” fragte er, wobei er sich mit Heißhunger über die Torte hermachte. Er war offenbar ein Mensch, der gute Speisen sehr zu schätzen wusste. Es machte Spaß, ihm beim Essen zuzusehen.
„Wozu?” Bestimmt hatte ihn Claudia schon über die Familie aufgeklärt.
„Weil es mich interessiert.” Seine Miene wirkte offen und aufmerksam.
„Mein Vater hat eine Frau geheiratet, von der er, wie ich glaube, im Grunde lediglich toleriert wurde. Mir scheint, sie hielt ihn für eine Art Begleitservice mit Kost und Logis, für jemanden, der samstagabends mit ihr im Country Club tanzen ging, der zuständig war, wenn das Geld aus ihrem Treuhandfonds nicht reichte. Er schuftete fünfzig, sechzig Stunden die Woche, um sie zufrieden zu stellen. Glücklich war er nicht, soweit ich mich erinnern kann. Wenn ich an ihn denke, was in letzter Zeit häufiger vorkommt, sehe ich ihn vor mir als einen sensiblen, einsamen Mann, der sehr liebevoll mit seinen Kindern umging. Zum letzten Mal trafen wir uns bei der Beerdigung meines Bruders, wo er sich im Hintergrund hielt und offenbar gar nicht mit uns sprechen wollte. Wahrscheinlich befürchtete er, meine Mutter könne ihm eine Szene machen, was ich ihr durchaus zugetraut hätte. Ich weiß noch,
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