Abschied aus deinem Schatten
sie sich nicht allzu attraktiv vor. Doch bis sie endlich die Kühlbox aufgestöbert und gefüllt hatte, klingelte er bereits an der Tür. Nervös und überzeugt, dass sie einen Fehler machte, hastete sie zur Haustür. Reid stand draußen und strahlte übers ganze Gesicht.
In der weit geschnittenen Khakihose und einem weißen langärmeligen Hemd, die nackten Füße in ledernen Segelschuhen, wirkte er noch größer als in ihrer Erinnerung, doch kein bisschen weniger umwerfend. Wie ein Mantra redete sie sich im Stillen immer wieder ein: Ich bin nicht hässlich, nicht hässlich! Nein! Sie glaubte zwar nicht daran, doch es lenkte zumindest ab.
„Wird Ihnen bestimmt Spaß machen”, versicherte er, während er die Kühlbox auf dem Rücksitz seines Chevrolet verstaute. „Schön, dass Sie sich entschieden haben mitzukommen.”
„Sie sind Segler und trotzdem nicht braun gebrannt”, stellte sie fest, während sie den Sicherheitsgurt anlegte. „Wie schafft man das? Da muss man sicher einen Lichtschutzfaktor von an die zweihundert auftragen!”
Er sah lachend zu ihr herüber. „Sie können ja richtig witzig sein!”
„Nicht übel, was? Klein, aber oho!” erwiderte sie schlagfertig, was ihn noch mehr erheiterte. Wie kam es bloß, dass sie sich nach außen hin so locker geben konnte, obwohl kein Mann zuvor sie je derart nervös gemacht hatte? Ich muss einfach nur ich selbst sein, lass mich einfach nur ich selbst sein, lautete nunmehr das Mantra.
„Lichtschutzfaktor dreißig”, sagte er. „Und ich habe immer eine Mütze auf. Ich werde nicht braun, und rot gehört erst recht nicht zu meinen bevorzugten Farben.”
„Bei mir auch nicht. Mein Bruder Cary war begeisterter Segler.”
„Ich glaube, Claudia erwähnte so etwas, wenn ich mich recht erinnere. Er hatte schon als ganz junger Kerl ein eigenes Boot, nicht wahr?”
„Richtig. Damals gehörten wir einem Strandclub an, und Cary ging fast täglich segeln.” Sie verstummte und blickte durchs Fenster, während sie in die Washington Street bogen. „Ich habe ihn oft begleitet. Heute kann ich kaum glauben, dass unsere Mutter zwei Kinder wie uns ganz allein auf den Sund hinaus gelassen hat. Cary war allerdings der geborene Segler und sehr vorsichtig. Ich musste immer eine Rettungsweste tragen.”
„Nur er tat das nie.”
„Hat Ihnen das meine Schwester erzählt?”
Reid nickte.
Erstaunt sah sie ihn an. „Das stimmt überhaupt nicht! Er fuhr nie raus, ohne die Schwimmweste anzulegen. Warum hat sie gelogen? Hätte er nämlich seine Weste nicht angehabt, wäre seine Leiche wohl nie gefunden worden. Nicht zu glauben, dass Sie Ihnen so eine absurde Lüge aufgetischt hat!”
„Was hat sich denn in Wirklichkeit zugetragen?” fragte er leise.
„Er war ziemlich weit draußen, als unvermittelt ein Sturm aufzog. Dabei ging sein Segel verloren, das Boot kenterte, und er zog sich eine schwere Verletzung am Kopf zu. Offenbar war er furchtbar zugerichtet. Als die Küstenwache ihn am nächsten Morgen fand, trieb er mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Ich konnte mithören, wie man meine Mutter informierte. Anscheinend hatte er das Bewusstsein verloren und war ertrunken. Mein Gott! Wieso hat Claudia das so falsch wiedergegeben? Sie war doch viel zu jung, um sich daran erinnern zu können!”
„Verzeihen Sie bitte. Es war taktlos von mir, es überhaupt zu erwähnen.”
„Nein, schon gut. Schließlich habe ich ja davon angefangen.” Ihre Hochstimmung war jäh umgeschlagen.
Dein Bruder ist tot! Wie hast du so lange ohne ihn leben können?
Als Kind hatte sie das Problem bewältigt, indem sie in Gedanken fortlief, so wie sie vor ihren Grübeleien über den Vater geflohen war. Kummer wich man besser aus. Das war klüger und sicherer.
Reids Hand, die sich über die ihre gelegt hatte, holte Rowena in die Gegenwart zurück. Aus ihren Gedanken aufschreckend, stellte sie fest, dass sie bereits am Kai des Jachthafens angelangt waren. Langsam zog er die Hand zurück. Rowena wandte sich zu ihm und sah ihn an, und für einen Augenblick war ihr, als sei sie in einem Traum gefangen, so wunderbar und schrecklich zugleich war der Anblick. Auf der Haut spürte sie noch den Druck seiner Hand.
„Heute reden wir nicht über Claudia”, schlug er vor. „Einverstanden?”
„Einverstanden”, erwiderte sie erleichtert. Sie konnte sogar wieder lächeln. „Heute nicht.”
Der neun Meter lange Kabinenkreuzer war zwar mehr als zwanzig Jahre alt, aber dennoch tadellos gewartet. Reid
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