Abschied aus deinem Schatten
Leid.” Plötzlich war ihre Kehle wie zugeschnürt.
„So ist das Leben”, stellte er fest, und für einen Augenblick fühlte sie sich an Marks hart erkämpfte Gelassenheit erinnert. Ob man wohl nur durch Kummer und Schmerz zur Weisheit gelangte?
„Ich glaube, ich würde kommenden Sonntag doch gern mitfahren”, sagte sie. „Melden Sie sich im Laufe der Woche. Dann schauen wir mal!”
„Abgemacht.”
Zusammen gingen sie zur Haustür. Rowena öffnete, warf einen Blick nach draußen und drehte sich zu Reid um.
„Ist es Ihnen nicht ein wenig unheimlich so allein hier?” In seiner Stimme schien ein besorgter Unterton zu liegen.
„Doch, ein bisschen schon, weil man sich alles Mögliche einbildet. Ansonsten macht mir das Alleinsein hier nichts aus. Ich bin in diesem Haus aufgewachsen und kenne jeden Zentimeter vom Dachboden bis zum Heizungskeller. Was mich allerdings beunruhigt, ist die Theorie der Polizei, wonach mein Kommen und Gehen ständig beobachtet worden sein soll. Wird einige Zeit dauern, bis ich wieder die Unbekümmertheit in Person bin. Wenn überhaupt!”
„Sie sollten sich mit ein wenig mehr Nachsicht begegnen, Rowena.”
„Was soll das heißen?”
„Sie haben eine verquere Art, sich selbst vors Schienbein zu treten, als wollten Sie anderen damit zuvorkommen.”
„Vielleicht will ich das tatsächlich”, räumte sie ein. So falsch lag er nicht. „Das ist eine alte Angewohnheit.”
„Gewohnheiten sind dazu da, dass man sie aufgibt. Was hat Sie veranlasst, den Job in der Bibliothek an den Nagel zu hängen und das Lokal zu übernehmen?”
„Die Wahl fiel mir nicht schwer. Als Chefbibliothekarin war ich eine reine Verwaltungsangestellte und schlug mich endlos mit Papierkram herum. Aber Schreibtischarbeit liegt mir nicht. Mir fehlte der Umgang mit Menschen, und als mir der wieder geboten wurde, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf.”
„Sie können gut mit Menschen umgehen, denn Sie gehen auf sie ein. Das ist mir neulich Abend aufgefallen, als ich mit Colin bei Ihnen zum Essen war.”
„Warum sind Sie eigentlich damals gekommen?”
„Ich wollte Sie wiedersehen.”
„Wieso?”
Er wirkte etwas verdutzt. „Wieso?”
„Ja! Warum?”
„Weil Sie mir gefallen. Meinem Kollegen gefielen Sie auch, wie Ihnen nicht entgangen sein dürfte.”
„Allerdings nicht. Er hielt um meine Hand an, wissen Sie noch?”
„Und ich riet Ihnen ab, erinnern Sie sich?”
„Ja. Und ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen das verziehen habe. Kommt nicht jeden Tag vor, dass mir jemand einen Heiratsantrag macht.”
Er lachte, küsste sie auf die Wange und sagte, wobei er ihren Arm leicht drückte: „Wir telefonieren.” Dann ging er davon.
Rowena wartete, bis er hupend davonfuhr. Während sie die Alarmanlage erneut aktivierte, ließ sie den gemeinsam verbrachten Tag Revue passieren. Als sie später ihr Buch beiseite legte und nach dem Schalter griff, um die Nachttischleuchte auszuschalten, freute sie sich bereits darauf, ihn wiederzusehen. Und als sie im Traum wieder mit ihm schlief, da ließ sie es einfach geschehen.
Als er bis zum Freitag der folgenden Woche noch nicht angerufen hatte, war Rowena enttäuscht. Andererseits, so sagte sie sich, hatte sie selbst nicht allzu begeistert gewirkt und ihn damit zweifellos in seinem Stolz verletzt. Und Stolz nahm schließlich in der Psyche der Männer einen beträchtlichen Raum ein. Vielleicht war Reid aber auch der Meinung, dass er zu viel von sich preisgegeben hatte, ein Gefühl, von dem sie selbst häufig genug beherrscht wurde. Wer wusste das schon? Ganz gleich, aus welchen Gründen er nicht anrief – versprochen hatte er es dennoch. Sie empfand sein Schweigen als kränkend und kam sich vor wie eine Närrin. Allmählich war es an der Zeit, dass sie lernte, die Menschen nicht immer beim Wort zu nehmen.
Freitagabend war das „Le Rendezvous” restlos ausgebucht, sowohl im Gastraum als auch draußen auf der Terrasse. Bereits Minuten nach ihrer Ankunft verfiel Rowena in den ihr mittlerweile so geläufigen Arbeitsrhythmus des Lokals. Jeden Abend herrschte sowohl eine unterschiedliche Stimmung als auch ein unterschiedliches Tempo. Es kam auf die Gäste an. An diesem Abend war der Geräuschpegel besonders hoch; es wurde viel gelacht, insbesondere an einem Tisch mit acht Personen. Dort feierte man nämlich den fünften Hochzeitstag eines temperamentvollen und attraktiven brasilianischen Ehepaars, das gerade zu Besuch weilte. Terry hatte Musik von
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