Abschied aus deinem Schatten
ich bin hinter ihm hergerannt, um ihn noch zu erwischen, bevor er abfuhr. Wir redeten nur kurz miteinander. Er versprach mir, sich zu melden, aber ich habe nie wieder etwas von ihm gehört oder gesehen.”
„Eine traurige Geschichte”, sagte er ernüchtert.
„Als Familie gaben wir ja auch ein trauriges Bild ab. Und Sie, Reid? Wie war’s bei Ihnen?”
„Mit Familiendramen kann ich nicht dienen”, erzählte er mit bedauerndem Unterton. „Meine Eltern waren beide Akademiker; Vater Geschichtsprofessor, Mutter Englischdozentin. Ich wuchs als Einzelkind auf und hatte eine unverschämt glückliche Kindheit. Wir gingen viel auf Reisen; vermutlich wurde ich – na ja, verwöhnt, könnte man sagen. Meine Eltern förderten meine kindliche Neugier mit Chemiebaukästen, kreativem Spielzeug und haufenweise Büchern. Ich war gern mit meinen Eltern zusammen und bin es noch immer. Wir rufen uns mehrmals die Woche an, und ich besuche sie etwa einmal im Monat oben in Maine. Nach der Pensionierung hat Vater mit dem Fliegenfischen angefangen, Mutter malt Aquarelle. Sie wohnen direkt an der Küste, etwa eine halbe Stunde von Portland entfernt. Beide sind heilfroh, dem akademischen Elfenbeinturm mit seinem Mix aus Lethargie und Aktionismus entronnen zu sein.”
„Da können Sie von Glück reden”, bemerkte Rowena und nahm sich auch ein Stück von der Torte. Mit ein paar Pinselstrichen war es ihm gelungen, ein einprägsames Bild von Zusammenhalt und Verbundenheit zu schaffen. Um seine ungetrübten Erinnerungen konnte man ihn regelrecht beneiden.
„Allerdings”, bestätigte er. „Aber für Sie muss es schwer gewesen sein, den Bruder und auch den Vater zu verlieren.”
Sie vermochte nichts zu erwidern, stand auf, holte die Kanne und schenkte Kaffee nach.
„Verzeihen Sie!” sagte er. „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten.”
„Bitte behandeln Sie mich nicht wie Ihre Patientin”, versetzte sie. „Ich wollte mich eigentlich ganz normal unterhalten.”
„Und eine normale Unterhaltung schließt bestimmte Antworten aus?” fragte er sanft.
„Ich bin Ihnen gegenüber im Nachteil, Reid. Ich kann schließlich nicht wissen, wie viel Sie bereits über meine Familie erfahren haben. Immerhin war meine Schwester bei Ihnen in Behandlung.”
„Stimmt. Aber Sie sind es nicht. Ich betrachte Sie nicht als Patientin.”
Es war die Gelegenheit, ihn zu fragen, als was er sie denn sehe. Doch sie brachte die Frage nicht über die Lippen, und die Chance verstrich. Reid sah auf seine Armbanduhr und meinte offenbar unwillig: „Ich glaube, ich muss aufbrechen. Montagmorgen hat die Welt mich wieder.”
„Ist das Ihre Betrachtungsweise? Dass Sie am Wochenende der Welt den Rücken kehren?”
„Am Samstagmorgen habe ich zwar noch Patiententermine, doch von Samstagnachmittag bis Sonntagabend halte ich es durchaus mit dieser Philosophie. Möchten Sie wieder mit rausfahren? Nächsten Sonntag?”
„Weiß ich noch nicht. Rufen Sie mich an, dann sehen wir weiter.”
„Liegt es an mir, Rowena, oder gehen Sie generell nur ungern Verpflichtungen ein?”
„Sehen Sie das als Verpflichtung – eine Verabredung zu einer Bootsfahrt?”
„Touché!” Er lächelte verschmitzt. „Ausweichen, indem man eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet. Ein in Analytikerkreisen gern angewandter Trick. Man verpflichtet sich nur geringfügig; vor Gericht, in einer Verhandlung wegen Vertragsbruch bei mündlicher Vereinbarung, käme man nicht damit durch.”
„Eins zu null für den Fachmann.” Sie lächelte zurück. „Wieso haben Sie sich scheiden lassen?”
„Weil sich herausstellte, dass ich für Susan doch nicht der Traummann war.”
„War sie denn die Frau Ihrer Träume?”
„Einige Zeit schon. Menschen ändern sich. Wir denken stets, wir seien anders, immun gegen den Verlust des Zaubers. Doch wir sind allesamt nicht unfehlbar und gar nicht so verschieden, wie wir es gern glauben möchten.”
„Wie wahr!” bemerkte sie. „Kinder?”
Ein gequälter Ausdruck glitt kurz über seine Züge. „Wir hatten eine Tochter, Annie. Sie starb mit viereinhalb Monaten. Plötzlicher Kindstod. Unsere Ehe hat das nicht ausgehalten. Wir haben uns beide nach Kräften bemüht, doch irgendwie war mit dem Verlust des Kindes doch mehr verloren gegangen. Weitere achtzehn Monate schleppten wir uns gemeinsam durch, aber dann mussten wir einsehen, dass es nicht ging. Schließlich haben wir uns in beiderseitigem Einvernehmen getrennt.”
„Das tut mir furchtbar
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