Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)
»Schreib doch mal was Nettes!«, sagte sie. »Sing doch mal was Eigenes!«, konterte ich eingeschnappt, denn immer wieder spielte und sang sie mir die gleichen bekannten, ja abgenudelten Songs vor (»There is a house in New Orleans they call the Rising Sun...«). Ein Wort ergab das nächste. Und dann war Schluss.
Als ich auf mein Fahrrad steigen wollte, trat er aus dem Dunklen heraus. Ich sah, dass er humpelte. Doch bevor ich ihn fragen konnte, ob er gefallen sei oder sich gestoßen hätte, legte er seinen Kopf schräg und rezitierte meinen Sammler-Text. Ein 12jähriger Junge, der die Selbstbeschreibung eines Serienmörders wiedergibt. Ich glaube nicht, dass er die Worte verstand, die er mit leiser Stimme formte. Sein Blick war leer. Seine Augen waren zwar auf mich gerichtet, aber er schien durch mich hindurchzusehen. Erst als er geendet hatte, kehrte wieder Leben in sie zurück. Er sah mich traurig an, und weil ich in diesem Moment den Eindruck hatte, er sei traurig, weil ich gehe, strich ich ihm einmal kurz über das Haar (wobei ich vielleicht nur meine eigene Trauer darüber, dass es mit Julia nicht funktioniert hat, auf ihn projizierte). Dann ging ich.
Es dauerte nicht lange, und ich ließ meine Trauer hinter mir. Bald schon dachte ich kaum mehr an Julia. Schließlich hatte ich sie, ebenso wie ihren Bruder, vergessen. Auch meine Skizzen zum »Sammler der letzten Worte« gerieten in Vergessenheit, andere Projekte, Ideen schoben sich in den Vordergrund, nahmen meine Zeit in Anspruch. Kurz: Ich habe keine Zeile meines Sammlertextes je veröffentlicht. Somit war ich mir, als mir der Sammler in den Aufzeichnungen des K. begegnete, ziemlich sicher, wer mein aufdringlicher und bedrohlicher Fan war.
Ich fragte meine Mutter beim Abendessen so beiläufig wie möglich, denn ich wollte nicht, dass sie sich Gedanken, geschweige denn Sorgen macht, nach Julia und ihrer Familie. »Ach, das habe ich ja ganz vergessen zu erzählen. Was für eine Tragödie!«, antwortete sie und hielt meinem Vater ihre Tasse hin, der ihr koffeinfreien Kaffee nach schenkte. »Wie lang ist das jetzt her, Papa?«, fragte sie, aber bevor Vater antworten konnte, erinnerte sie sich. »Ach ja, das war vor zwei Jahren an dem Tag, als Pfarrfest war und die Hilde mir den Kuchen vorbeigebracht hat, damit ich ihn zum Fest bringe. Lecker Apfelkuchen. Das konnte sie schon immer. Backen. Du kennst doch noch die Hilde, immer mit dem Fahrrad unterwegs. Aber dann hatte sie diese Hüft-OP. Traute sich die Strecke ins Dorf nicht mehr zu. Aber den Kuchen wollte sie natürlich stiften. Das hat sie sich noch nie nehmen lassen, die Hilde. Na, hat ja auch sonst nicht viel zu tun, seitdem der Hans-Peter nicht mehr ist. Jedenfalls bin ich dann mit dem Kuchen ins Dorf gefahren, und die Gerda, die kennst du doch noch auch noch, ja, die Gerda, die hat mir den Kuchen abgenommen. Hat gleich gesehen, dass der von Hilde ist. Jedenfalls die Gerda, die hat mir dann von dem schlimmen Unfall erzählt. Ist an dem Morgen passiert. Der Mann von der Gerda ist ja bei der Freiwilligen Feuerwehr, der war vor Ort, sind ja immer schnell da, wenn in der Gegend was passiert, haben ja seit ein paar Jahren den neuen Spritzenwagen, war ja auch kein Zustand mit dem alten Gerät, das gehörte doch in ein Museum, jedenfalls der Hans-Peter war vor Ort, und die Gerda hat gesagt, ihr Hans-Peter hätte sie mit schwerem Gerät rausgeholt, aber das nehme ich der nicht ab, die erzählt viel, wenn der Tag lang ist...« Meine Mutter war in ihrem Element. Vater holte sich und mir ein Bier, und dann erfuhr ich, dass Julia und ihre Eltern bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben gekommen waren. Eine Nachricht, die mich traurig stimmte und beunruhigte.
Die Bremsen hätten versagt, erzählte meine Mutter, so hätte es in der Zeitung gestanden. Bei der Untersuchung hätte sich herausgestellt, dass die Bremsleitung einen Defekt gehabt hätte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Marderfraß. Ein Fremdverschulden sei ausgeschlossen worden. »Auch wenn es im Dorf Stimmen gab, die etwas anderes behaupteten...«, meinte meine Mutter und trank einen Schluck Bier aus meiner Flasche. »Einige hatten den schlimmen Streit zwischen Julia und ihrem Bruder, wie heißt er nochmal?«, fragte sie Vater. Aber bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Jedenfalls haben die beiden sich im Edeka furchtbar gestritten, am Tag vor dem Unfall, und Doris, Doris hat mir das beim Pfarrfest erzählt. Die war dabei. Aber man
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