Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)
Passage, seitenlang, die aus meinen Geschichten übernommen waren, und dann, als der Erzähler seinen Mörder gefunden hatte, den »Sammler der letzten Worte«, da fand ich K., bzw. ließ sich K. finden.
Vor vielen Jahren hatte ich, beseelt von dem Wunsch, einen Roman zu schreiben, einige Skizzen entworfen, die für mein Empfinden spannend klangen. Wie alt war ich damals? Vielleicht 17, 18. Jedenfalls wohnte ich noch bei meinen Eltern, und ich hatte dieses Mädchen kennengelernt. Wir gingen, wie man damals sagte, einige Monate miteinander. Es waren, wie ich mich erinnere, schöne Herbst- und Wintermonate. Wir saßen oft in ihrem Zimmer, tranken Tee, den uns ihre Mutter brachte. Sie spielte mir auf der Gitarre etwas vor und sang dazu, ich las aus meinen Geschichten. Julia war ihr Name.
Es dauerte mehrere Wochen, bis ich erfuhr, dass Julia einen jüngeren Bruder hatte. Er war nie, wenn wir zum Beispiel gemeinsam mit ihren Eltern zu Abend aßen, dabei gewesen. Kein Wort war über ihn verloren worden.
Wir lagen auf ihrem Bett, Julia hatte ihren Kopf auf meine Beine gelegt, ich las ihr wieder einmal etwas vor, da hob sie ihren Kopf und horchte Richtung Tür. Plötzlich sprang sie auf, stürzte zur Zimmertür und riss diese auf. Auf dem Boden im Flur kniete ein Junge, vielleicht 12. Er sah schuldbewusst zu ihr hoch, als sie ihn anschrie. An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr. Er sei ein Spinner. Würde wieder horchen. Solle sich in seinem Keller verkriechen. Eine regelrechte Tirade ließ Julia los, so hatte ich sie bis zu dieser Stunde nicht erlebt, und mir gefiel das gar nicht. Ich versuchte, sie zu beruhigen. Daraufhin schrie sie mich an, was ich denn schon wisse. Meine Geschwister seien schließlich nett und normal. So einen Bruder sollte ich mal haben, dann sprechen wir uns wieder... In diesem Moment legte ihr Bruder den Kopf zur Seite und begann zu sprechen, und ich weiß noch gut, wie erstaunt ich war (wobei es mir auch etwas unheimlich vorkam), denn er wiederholte mit langsamer, ein wenig mechanisch klingender Stimme den genauen Wortlaut von Julias Tirade, dann meine Einwände und die Reaktion seiner Schwester auf meine Worte. Julia verdrehte die Augen und schlug die Tür zu.
Nach dieser Szene hatten Julia und ich uns gestritten, und ich hatte dann schlecht gelaunt ihr Zimmer und das Haus verlassen. Ihr Bruder erwartete mich an meinem Fahrrad. Er stand im Dunkel der Garage, in der Hand hielt er einen Stoffhund, sein Kuscheltier. Ich lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Dann legte er den Kopf zur Seite, als würde er horchen, und gab Wort für Wort die Geschichte wieder, die ich Julia vorgelesen hatte.
K. war Julias Bruder. Ich war mir sicher, nachdem ich die Passagen über den »Sammler der letzten Worte« gelesen hatte. Im ersten Moment kam mir dieser Abschnitt nur vage bekannt vor, doch dann erinnerte ich mich. Ich sah mich wieder an meinem Schreibtisch in meinem Elternhaus sitzen und voller Hoffnung Ideen auf meiner Schreibmaschine entwerfen, unter anderem die Idee zu einem Kriminalroman rund um den Sammler (wobei dieser in meiner ursprünglichen Fassung am Niederrhein seine Opfer suchte und nicht, wie in der Version von K., in Wuppertal). Letztlich hatte ich diese Ideen verworfen und einen Roman geschrieben, in dem ein anderer, ein religiös-fanatisch geprägter Mörder sein Unwesen treibt. Aber vorgelesen hatte ich die Skizzen Julia damals – und ihr Bruder hatte uns wieder belauscht. Es war der Abend gewesen, an dem ich mit Julia Schluss machte.
Julia sprach nicht über ihren Bruder. Jedes Mal, wenn ich sie nach ihm fragte, gab es Streit. So hatte ich eines Abends ihre Mutter gefragt. Obwohl ihr augenscheinlich dieses Thema peinlich war, erzählte sie mir von ihrem Sohn. Von seinem Tick alles zu wiederholen, was er hörte. Davon, dass er ansonsten kaum sprach. Dass er »nicht blöd sei«, nur anders. Dass er dennoch in ein »besonderes Heim« ginge und nur am Wochenende daheim sei (»Außer er haut dort ab«). Dass er sein Zimmer im Keller hätte (»Er hat das so gewollt«), dass er dort seit einigen Jahren seine Mahlzeiten alleine einnehme, weil ihr Mann und Julia es irgendwann nicht mehr ertrugen, dass er beim Essen jedes ihrer Gespräche wiederholte oder nachplapperte, was im Radio kam.
Am Abend, an dem ich mit Julia Schluss machte (was eine sehr spontane Entscheidung war), las ich ihr meine Passagen vom Sammler vor. Ich spürte sehr schnell, dass ihr nicht gefiel, was sie hörte.
Weitere Kostenlose Bücher