Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)
heute vor sich sehen.
Jahrelang war ich nur fähig, nachzuplappern, was ich hörte. In meinem Kopf waren ganz andere Worte, aber sie kamen nicht raus. Da war immer der Zwang, andere Worte zu benutzen. Worte, die auf mich eindrangen. Meine Eltern. Meine Schwester. Das Radio. Das Fernsehen. Meine Schulkameraden.«
Er humpelte um die Bar herum, reichte mir das Glas und zog sich einen Barhocker heran, dann erzählte er weiter.
»Wissen sie, es geschah an dem Tag, als ich sie das letzte Mal sah. Ich stand oben an der Treppe, die zu meinem Keller führt, der damals natürlich noch anders ausgesehen hat, da stand plötzlich meine Schwester hinter mir. Wir hatten uns am Mittag, wie so oft gestritten, und das tat immer so weh, denn ich liebte sie wirklich, und plötzlich stand sie hinter mir, vielleicht wütend, weil ihr euch vorher gestritten hattet, und ich denke, es war keine Absicht, aber ich stürzte. Es tat sehr weh. Aber da ich ahnte, dass ich sie vielleicht zum letzten Mal sehe, und ich sie wirklich sehr mochte, denn sie hatten mich gegenüber meiner Schwester in Schutz genommen, habe ich mir nichts anmerken lassen und bin schnell zu ihnen gegangen und habe sie draußen noch angetroffen, bevor sie wegfahren konnten. Das war gut, denn ich konnte ihnen noch zeigen, dass ich ihnen zugehört hatte – und mir gefiel ihre Geschichte vom Sammler.
Danach begann sich alles zu ändern. Zuerst war es nicht gut. Es tat einfach nur weh. Ich war oft bei Ärzten, öfter als daheim, als im Heim. Aber sie fanden keine Ursache für meine Schmerzen. Organisch war alles in Ordnung. Ich hatte mir bei dem Sturz nichts getan. Aber ich begann nachzudenken. Für so etwas ist Schmerz immer gut, nicht? Das reißt einen aus seinem Trott raus. Also dachte ich: Wer bin ich? Und wer ist gut für mich? Und als ich gewahr wurde, dass meine Familie nicht gut für mich ist, da dachte ich, es muss sich in meinem Leben etwas ändern. Da dürfte ich so ungefähr 15 gewesen sein. Und da fielen mir ihre Worte wieder ein, die sie den Sammler sagen ließen »Es kommt also nicht darauf an, frei von Vorurteilen zu sein, sondern sich freizumachen von den Urteilen...«
Ich erinnerte mich daran, dass sie nett zu mir gewesen waren, sie hatten mir über den Kopf gestrichen, versucht, mich zu trösten. »Krüppel, Mutant, Missgeburt«, so nannten mich damals manche. Aber nicht sie! Und lag in ihren Worten nicht etwas Wahres? Also versuchte ich, mein Leben auf den Kopf zu stellen. Mein Vorurteil mich selbst betreffend war gewesen: Du bist blöd, du kannst nur nachplappern, hier ist Sicherheit. Also begann ich, zu schweigen, denn was ich hätte sagen können, wäre aus dem Mund anderer gekommen. Allmählich aber, langsam tastend, fand ich meine eigenen Worte, nun gut, ich wusste, woher sie stammten, aus Gelesenem, Gehörtem, aber anders als früher gab ich diesen Worten auch immer etwas Neues mit, etwas, das aus mir selbst stammte. Es war eine aufregende Reise. Mir zu erlauben, anderen Worten eine neue Richtung zugeben, Worte zu kombinieren, eine Reise in die Freiheit, die sicherlich noch lange nicht beendet ist. Jedenfalls verlor ich über diesen Weg meine Sprachlosigkeit, doch gleichzeitig, und vielleicht war dies der Preis dafür, dass ich langsam meine eigene Stimme fand, wurden meine Schmerzen immer schlimmer.
Es war und ist keine einfache Zeit. Aber ich habe die Worte ihres Sammlers, die mir Mut zusprechen. Ich bewahre seine gelassene, bedachte Herangehensweise an die Dinge in meinem Herzen – und so verliere ich nicht den Mut und meistere mein Leben, indem ich mit Bedacht einen Schritt nach dem nächsten mache.«
K. stand mühsam von dem Barhocker herunter, ging hinter die Bar und goss sich auch noch ein Glas voll.
»Ich muss ihnen also dankbar sein. Niemand hätte damals gedacht, dass ich mein Leben allein hätte meistern können. Der kleine Hindi, nur nachplappernd, was er hört. Und jetzt rede ich nicht nur, ich schreibe sogar!«
K. hob sein Glas: »Also auf ihren Sammler! Und auf sie! Sie waren nett zu mir, als ich es am wenigsten erwartet hatte, sie haben viele Geschichten geschrieben, die mir sehr viel Freude gemacht haben, und jetzt sind sie sogar hier, und jetzt wissen sie, wie lange sie schon einen Fan in mir haben – einen sehr treuen Fan! Was uns zu der Frage führt, was das alles soll? Warum mir so viel daran lag, sie dazu bewegen, zu mir zu kommen, also...«
In diesem Moment klingelte es an der Haustür. K. entschuldigte sich und
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