Abschied und Wiedersehen
Herr Völcker blieb noch drei Tage in Bartenstein und reiste dann nach Wien zurück. Es muß Lotte in diesen Tagen wohl gelungen sein, ihm Königsberg madig zu machen, denn er blieb Wien und seinem Lehrstuhl an der Rudolphina treu. Sie hatten vereinbart, daß Lotte ihm einige Tage später nach Wien nachreisen sollte, um die Stadt kennenzulernen und sich nach einer Wohnung umzusehen.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage, daß du allein nach Wien fährst!« sagte Vater mit einer Entschiedenheit, als beabsichtige er, sich notfalls vor die Lokomotive zu legen. »Aber Julchen!« meinte Mutter, »was du schon wieder denkst! Ein Professor und ein Theologe dazu...!«
Doch Vater erwiderte, das wären auch nur Menschen, und er bestand darauf, daß Lotte in Begleitung fahren müsse. Schließlich erklärte sich Else dazu bereit, als Anstandsdame nach Wien mitzufahren, allerdings unter der Voraussetzung, daß Vater die Reisekosten übernehme. Das war Vater die jungfräuliche Ehre seiner Tochter wert. Vierzehn Tage später kamen die beiden Damen von ihrer Reise zurück, von Wien höchst angetan, von der Generosität, mit der Herr Völcker sie verwöhnt hatte, hell begeistert und äußerst zufrieden darüber, in Wien eine Wohnung gefunden zu haben, die das Prädikat >hochherrschaftlich< voll verdiente.
»Eine Wohnung in der Nähe des Stadtparks, wo der Johann Strauß vergoldet in einem Marmorbogen geigt«, erzählte Else sichtlich beeindruckt, »im zweiten Stockwerk, mit Lift! Fünf Riesenzimmer! Und hinter der Küche ein richtiger Dienstbotentrakt. Und Karl will eine böhmische Köchin engagieren, weil er die böhmische Küche bevorzugt. Und ein Stubenmädchen! Und ein Kinderfräulein, falls das einmal notwendig werden sollte! Ich sage euch,
Lotte hat wirklich in den Glückstopf gegriffen!« »Böhmische Küche...« sagte Mutter mit verkniffenen Lippen, »na, ich weiß ja nicht! Aber wenn es durchaus sein muß, bitte, von mir aus... Da ißt man doch Knödel oder so was.«
»Fünf Zimmer«, knurrte Vater, »wer soll die möblieren?« »Ihr braucht euch um nichts zu kümmern«, beruhigte ihn Lotte. »Es genügt, wenn ich eine Wäscheaussteuer mitbringe.«
Sie hatte inzwischen ihre Entlassung aus dem Schuldienst in die Wege geleitet. Auch ihre Freundin Clara hatte den Schuldienst quittiert. Denn wie Lotte hatte auch sie in Kranz einen Herrn kennengelernt, der in Deutschland Urlaub machte, in Mexiko als Ingenieur tätig war und sie bald nach Mexiko entführte. Die Damen lösten ihre Wohnung in Sonnenborn auf und lebten zumeist bei Else in Königsberg, um dort gemeinsam ihre Aussteuern zu besorgen. Aber die Inflation hatte ihre Gangart inzwischen verschärft. Die Waren verschwanden aus den Schaufenstern und wanderten in die Lager, und als Lotte nach der Hochzeit im Frühjahr 1923 endgültig nach Wien übersiedelte, da konnte sie ihre Aussteuer in zwei Koffern mitnehmen, und deren Inhalt bestand zum größten Teil aus Wäschestücken, die Else und Mutter aus ihren Beständen beigesteuert hatten.
Wir Jungen wurden mit den Zahlen, die bald in astronomische Höhen hinaufkletterten, erstaunlich rasch fertig. Die Eltern taten sich schon schwerer, und Großmutter schließlich wurde von den vielen Nullen auf den Banknoten ganz schwindlig im Kopf. Sie sparte das Papiergeld, füllte damit die Schubladen und Schrankfächer und starb in der festen Überzeugung, uns ein Riesenvermögen hinterlassen zu haben. Wenn Vater sein Gehalt - zum Schluß der Inflation in prall gefüllten Aktenmappen - heimbrachte, dann stürzten Mutter und Großmutter in die Stadt, um zu kaufen, was es nur zu kaufen gab, denn schon die nächste Stunde, gewiß aber der nächste Tag konnte eine Verdoppelung der Preise bringen. Einmal entdeckte ich im Schaufenster von Nelson, einem Konfektionsgeschäft am Markt, einen rostbraunen Mantel in hochmodernem Raglanschnitt, der mit 360 000 Mark ausgezeichnet war. Ich rannte nach Hause, um Mutter zu überreden, mir das gute, dringend benötigte Stück zu kaufen. Aber da war nichts zu machen.
»360 000 Mark für einen Mantel! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?«
»Aber Muttchen, heute nachmittag kostet er vielleicht schon 380 000 Mark, und morgen 400 000...«
Er kostete nicht 400 000, sondern 440 000 Mark und war am nächsten Tag aus dem Schaufenster verschwunden. Wenige Tage später begannen wir mit Millionen zu rechnen.
Wenn ich heute an jene Zeit zurückdenke, dann erstaunt es mich immer wieder, wie wenig
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