Abschied und Wiedersehen
uns interessierte, was auf der Welt geschah. Wir lebten wie auf einer Insel, zu deren Gestaden das Getöse der politischen Ereignisse nur gedämpft herüberdrang. Ein wenig Aufregung brachte das Plebiszit in dem masurischen Teil der Provinz, das mit einem überwältigenden Votum auch der masurisch sprechenden Bevölkerung für die deutsche Staatsangehörigkeit endete. Aufregender aber als die Abstimmung an sich, zu der auch Vater nach Arys fuhr, um dort seine Stimme abzugeben, war der Wirbel, den sie bei uns zu Hause verursachte. Denn von überall her, aus Berlin, aus Breslau, aus Bremen und sogar aus Gelsenkirchen kamen Verwandte angereist, um ihr Stimmrecht auszuüben und im Anschluß an die Abstimmung alte Familienbande neu zu knüpfen. Mutter mußte viele Handarbeiten opfern, um die ausgehungerte Verwandtschaft satt zu kriegen. Sie fraßen Mutters Speisekammer ratzeputze leer und schieden in der Überzeugung, daß wir in Ostpreußen wie die Maden im Speck lebten.
Als das Abstimmungsergebnis bekanntgegeben wurde, ging eine Welle der Begeisterung durch die Provinz, die auch Bartenstein überspülte. In diesen Tagen gründete der Primaner Wilhelm Grzybowski den >Bund nationaler Gymnasiasten<, dem die oberen Klassen geschlossen beitraten. Grzybowski war Pfarrerssohn, ein kleingewachsener Bursche mit einem pechschwarzen Haarschopf und buschigen Brauen, unter denen die dunklen Augen Blitze sprühten, wenn er gegen den Schandvertrag von Versailles, gegen den Verräter Roosevelt, gegen das Sozigesindel in Berlin oder gegen den Dawes-Plan zu Felde zog. Das Material für seine Reden lieferte ihm der deutschnationale Parteisekretär Christofczyk, der zuweilen nach der Rede unseres Vorsitzenden das Wort zu einer flammenden Ansprache ergriff. Zum Schluß sangen wir die Wacht am Rhein oder das Gaudeamus, wobei großer Wert darauf gelegt wurde, bei der Laudatio auf >res publica et qui illam regit< aus dem Präsens regit das Perfekt rexit zu machen und dabei das X überdeutlich zu betonen. Neben den nationalen Aspekten aber verfolgte Grzybowski auch andere, sozusagen schulpolitische Ziele. Er hatte den Bund nationaler Gymnasiasten nach studentischem Comment aufgezogen. Bei den zahlreichen Kommersen, bei denen es zunächst allerdings nur Dünnbier gab, trugen wir schwarz-weiß-blaue Couleurbänder auf der Brust, waren in Burschen und Füchse aufgeteilt, rieben Salamander und mußten auf Befehl des Präsiden in die Kanne steigen, wenn wir uns eines Vergehens gegen den strengen Comment schuldig gemacht hatten. Grzybowskis Antrag, den Bundesbrüdern zu gestatten, innerhalb und außerhalb der Schule Couleur tragen zu dürfen, wurde vom Chef schroff abgelehnt. Erstaunlicherweise gelang es Grzybowski jedoch, Herrn Kröhnert zu bewegen, die je nach Klasse verschiedenfarbigen Mützen abzuschaffen und an ihrer Stelle eine blaue Tellermütze mit schwarz-weiß-blauem Stirnband einzuführen. Wir feierten dieses Ereignis als einen triumphalen Sieg unseres Bundes, denn für jene Pennäler, die kleben blieben, war es natürlich ziemlich peinlich, zum neuen Schuljahr mit der alten Klassenmütze aufkreuzen zu müssen und damit der ganzen Stadt zu zeigen, daß man das Klassenziel leider nicht erreicht hatte. Besonders bei den Kleinen gab es da bittere Tränen, wenn die Klippschüler mit Spottversen hinter ihnen herzogen: >Kleben jeblieben, Kartoffel jerieben, Honig jeleckt, am Arsch verreckt.. .<
Ob Grzybowskis energisches Eintreten für die Einheitsmütze der dunklen Ahnung entsprang, daß er am Abitur scheitern würde, sei dahingestellt, fest steht jedoch, daß er an dieser Klippe Schiffbruch erlitt, aus Bartenstein verschwand und daß der Bund nationaler Gymnasiasten nach seinem Weggang ohne rechten Schwung dahinsiechte und sich bald darauf auflöste.
Wenn auf den festlichen Kommersen auch das stramm nationale und hohenzollerntreue rexit beim Gaudeamus mehr oder weniger aus vaterländischem Pflichtgefühl ertönte, so sangen wir bald jene Strophe, in der das Vivat den mulieres und vor allem den virgines faciles formosae galt, mit richtigem Elan und feuriger Beschwingtheit. Und mein spezielles Vivat galt dabei dem dunkelblonden Kät-chen, in das ich mich bei unserer gemeinsamen Konfirma-tion durch Herrn Superintendenten Nietzki unsterblich verliebt hatte. Der holde Zauberbann der ersten Liebe erfüllte mein Herz mit solcher Glut, daß ich eine Schwäche in den Knien spürte, wenn ich das Kätchen nur von weitem sah, und es verging kein Tag,
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