Abschied von Chautauqua
Auf Wiedersehen, dachte sie, als wäre sie schon nicht mehr da.
Sie warteten in den Autos, diesmal fuhr Lisa, die unbedingt loswollte. Kenneth musste seinen Sitz einstellen und auf Sarahs Beine aufpassen. Emily legte ihren nassen Regenschirm nach hinten, bevor sie sich anschnallte. Inzwischen standen sie in einer langen Schlange.
«Hat es sich sehr verändert?», fragte Lisa, und obwohl in ihrem Ton eine künstliche Freundlichkeit lag, gab Emily den Mädchen zuliebe eine ernsthafte Antwort.
«Eigentlich nicht.»
Laut einem der Aphorismen ihrer Mutter kam einem die Heimfahrt stets kürzer vor, doch die ganze Strecke vom Ausgang bis zum Zoll fuhren sie Stoßstange an Stoßstange. Die Uniformierten riefen ihr Kenneths Mädchen aus dem Gemischtwaren-laden ins Gedächtnis und dann die Lerners. Sie hoffte, dass Ru-fus allein zurechtkam. Ihm knurrte bestimmt der Magen. Sie hatte nicht ans Abendessen gedacht. Die Kinder mussten etwas essen.
Der Beamte winkte sie durch, und sie waren zurück in Amerika. In Buffalo herrschte Stoßverkehr. Sie fuhren im Schneckentempo und betrachteten die Häuser auf der anderen Seite des Lake Erie, die unsichtbare gestrichelte Linie im Wasser, die die beiden Länder trennte. Als die Autobahn landeinwärts bog, empfand Emily das als einen weiteren Verlust - und dasselbe galt für die Stadt, deren rußige Gebäude aus der Ferne aussahen wie die erleuchteten Türme eines Zauberreichs.
«Lausiges altes Buffalo», sagte sie, um sich auf die Probe zu stellen. Sie war froh, es wieder gesehen zu haben, sich zu beweisen, dass sie nichts verpasst hatte, und das andere Leben, das sie hätte führen können, löste sich in nichts auf, war bloß ein aus ihrer Jugend übrig gebliebener Tagtraum. Es war, als würde sie ein Haus aufräumen, in dem sie fünfzig Jahre gewohnt hatte, und all die kaputten Sachen wegwerfen, die sie nicht mehr benutzen würde. Eigentlich hätte sie sich eher erleichtert als leer fühlen müssen.
«Okay, Leute», sagte Lisa und deutete durch die Windschutzscheibe auf ein Schild, «Wendy's oder Burger King?»
«Wendy's», sagte Ella.
«Ist mir egal», sagte Sarah.
Emily schwieg. Sie fand Fast Food, den Gedanken, dass es nichts Besseres gab, deprimierend. Vieles hatte sich verschlechtert. In dieser Hinsicht waren achtundvierzig Jahre eine halbe Ewigkeit.
«Sprecht jetzt, oder schweigt für immer», sagte Lisa. «Ken? Emily?»
«Wendy's», willigte Ken ein.
«Emily?», fragte Lisa.
«Wendy's ist in Ordnung», sagte sie.
* 12
Natürlich hörte es jetzt, wo sie nach Hause fuhren, auf zu regnen. Der Lake Erie lag auf ihrer Seite, und Sarah konnte sehen, wo die Wolken aufhörten und der meilenlange orange Himmel anfing, die knallgelbe Sonne schon fast auf dem Wasser. Es war ein Sonnenuntergang, bei dem ihre Mutter sagen würde, solche Farben entstünden durch die Umweltverschmutzung, aber ihre Mutter fuhr hinter ihnen, und Grandma sagte, vielleicht würden sie endlich gutes Wetter kriegen.
«Roter Himmel am Abend», sagte Onkel Ken.
«Wollt ihr beide morgen immer noch Golf spielen?», fragte Tante Lisa.
Sarah hörte sich an, was die anderen vorhatten, einfach um zu sehen, was auf sie zukommen würde. Sie befürchtete, sie und Ella müssten auf die Jungs aufpassen.
«Können wir Tubing machen?», fragte Ella.
«Ja», erwiderte Onkel Ken. «Wenn ich zurückkomme und das Wetter es erlaubt, mach ich das mit allen, die Lust haben.»
Dann ist der ganze Nachmittag vorbei, dachte Sarah. Sie hatte nichts Spezielles vor, wollte bloß ein bisschen rumlaufen, zu den Fischteichen gehen, vielleicht Tennis spielen, Fahrrad fahren. Sie rechnete eigentlich nicht damit, ihm zufällig zu begegnen, aber wenn sie im Boot saßen, war es unmöglich - es sei denn, er hatte selbst eins. Sie sah vor sich, wie er in seinem Boot saß, das Hemd ausgezogen, braun gebrannt, sie selbst in ihrem gelben Bikini neben ihm. Als würde ihre Mutter sie hier mit ir-gendwem weggehen lassen. Seit dieses Mädchen entführt worden war und sie den Typen in dem Lieferwagen begegnet waren, wartete sie auf die große Gardinenpredigt.
«Du bist genau das, wonach diese Leute suchen», hatte ihre Mutter mal zu Hause gesagt, und Sarah konnte bloß sagen: «Toll.»
Draußen gingen die Lichter an. Die Sonne war noch nicht untergegangen, und alles außer den grellen Schildern der Tankstellen und Schnellrestaurants
Weitere Kostenlose Bücher