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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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sie im Arm gehalten, während sie weinte, und kein einziges Mal hatte er sie daran erinnert, wie dumm sie gewesen war.
      Rufus ächzte, sie blickte auf, und eine Bewegung zog ihren Blick auf sich. Was sie zuerst für einen Satelliten hielt, teilte sich in zwei und dann drei Punkte, ein unsichtbares Flugzeug, das vor den Sternen blinkte, klein und so hoch oben, dass es lautlos und, verglichen mit dem unermesslichen Hintergrund, winzig war. Der Sommerhimmel sah jedes Jahr gleich aus, hatte sie hier seit ihrer Kindheit begleitet und still die Zeitläufe, die Kriege und großen Veränderungen überdauert. Sie hatte das Gefühl, als würde sie aus ihrem Körper herausgehoben und könnte auf die zitternde alte Frau auf dem Steg und die Bäume und Häuser am Seeufer hinunterschauen, hatte das Gefühl, zu der bedeutenderen Frage der Sterne, der Erde und der Ewigkeit hinaufgezogen zu werden.
      Sie konnte sich Henry nicht im Himmel ihrer Mutter vorstellen, einem Ort, wo es so ähnlich aussah wie im Institut, mit schräg geschnittenen Hecken und Mozartklängen aus dem Wald, die Bewohner in langen Gewändern über Philosophie diskutierend wie bei den alten Griechen. Hoffentlich hatte es in seinem Leben eine Zeit gegeben, wo er mit allem zufrieden gewesen war und wohin er zurückkehren konnte, wie diese verrückten, atemberaubenden Tage, als sie gedacht hatte, Walter könnte ihr gehören.
      Sie dachte, dass sie keine wirkliche Vorstellung vom Himmel hatte, nicht einmal so etwas wie die Wattewolken und Harfen eines Kindes: eine autofreie Kleinstadt, gesegnet mit gutem Wetter, mit Häusern wie im Märchen. Das hieß nicht, dass der Himmel nicht existierte. Sie konnte nicht glauben, dass Henry einfach tot und verschwunden war.
      Ihre Mutter würde ihren Glaubensabfall missbilligen, ihn als hochmütig und selbstsüchtig betrachten, noch etwas Nutzloses, das Arlene gelernt hatte, aber das stimmte nicht. Sie hatte ihr ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, anderen Mut zu machen, damit sie «Ich weiß nicht» sagten und dann weitermachten, die Suche nach der Wahrheit ein heiliger Ritus. Es ergab keinen Sinn, jetzt damit aufzuhören, bloß weil sie sich am Ende mit den Lieblingsfragen ihrer Mutter konfrontiert sah.
      Hinter ihr glitt ein Auto den Manor Drive entlang, die Scheinwerfer auf die Häuser gerichtet, während die Rücklichter die Blätter erleuchteten. Ein tuckernder Lieferwagen, wahrscheinlich ein Fischer auf dem Weg zum Jachthafen. Ihr tat der Nacken weh, die Sterne hatten ihre Erhabenheit verloren. Sie hatte ihre Zigarette fast zu Ende geraucht, und es war zu kühl, um auf das Läuten der Glocke zu warten.
      Sie hatte nicht vor, in den Himmel zu kommen. Sie würde einfach nicht mehr da sein, so wie sie in einer Minute nicht mehr auf dem Steg sitzen würde. Die Glocke würde sowieso läuten, genau wie nächste Woche und nächstes Jahr, wo sie nicht mehr hier waren. Die Sterne und die Erde würden sich weiterdrehen, das Sommerhaus verfallen. Das war kein Geheimnis. Jemand würde ihre Wohnung übernehmen und durch die kleinen Zimmer schreiten, genau wie sie von der Küche zur Wohnungstür gehen und die Pflanzen auf die Feuertreppe stellen, damit sie genug Sonne hatten. Sie würde bloß ihr Album, ein paar Schmuckstücke ihrer Mutter und einen Stapel verblasster Fotos hinterlassen. Sie würde die alte Frau auf dem Video sein, deren Name ihnen nicht einfiel, eine schwierige Trivialfrage, die Schwester ihres Urgroßvaters Maxwell, die nie geheiratet hatte. Es störte sie nicht so sehr, dass man sie für lesbisch halten würde (obwohl sie den Gedanken schon öfter verdrängt hatte, als sie wahrhaben wollte), sondern für unglücklich, dass sie noch im Tod ihre Entscheidungen verteidigen musste und, wie schon im Leben, zwangsläufig gegen die Ansichten derer verlieren würde, die sie nicht kannten.
      Sie drückte den Zigarettenstummel auf dem Pfahl hinter ihr aus, verschmierte die Glut und schabte dann mit dem Filter drüber.
      «Bist du so weit, mein Alter?», fragte sie, und Rufus rappelte sich knurrend auf.
      Jetzt konnte sie mühelos alles erkennen, das Wasser ein silbrig glänzendes Schwarz, wie der polierte Lack einer Limousine. Als sie sich dem Ufer näherten, brachten sich die Frösche in Sicherheit. Rufus ging folgsam bei Fuß, bis sie das Gras erreicht hatten, und sprang dann in großen Sätzen zur Küchentür, um eine Belohnung zu ergattern. Im Wald zirpten die Heuschrecken, ewig wie die Sterne. Die

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