Abschied von Chautauqua
hatte sie bei Colin dasselbe getan, aber jetzt begriff sie, wie grausam und feige das war. Mark hätte es ihr einfach im Juni sagen sollen, statt sie warten zu lassen.
Sie lag da, neben ihr pfiff Ella wie eine Lokomotive. Unten ging die Tür auf, ein Lichtstrahl fiel auf die Wand, und Sarah rollte sich auf die andere Seite, Nase an Nase mit Ella. Es wurde wieder dunkel im Zimmer, bis jemand eine Taschenlampe anknipste und ein Lichtkegel umherflog wie eine eingeschlossene Fledermaus. Sie hörte, wie ihre Mutter und Onkel Ken kicherten und sich bemühten, leise zu sein, und fragte sich wütend, ob sie bekifft waren. Ella schlief mit offenem Mund; dadurch sah sie noch mehr wie ein kleines Kind aus, und Sarah fand, dass Ella sich glücklich schätzen konnte, denn sie brauchte sich nicht ständig Gedanken über Jungs zu machen, die etwas von ihr wollten.
Der blöde Arsch. Sie konnte ihn jederzeit dazu bringen, dass er sich's anders überlegte. Das war nicht schwer.
Aber so nötig hatte sie's nicht.
Oben an der Treppe bogen sie ab, der Boden knarrte unter ihren Füßen. Sarah schloss die Augen, versuchte, langsamer zu atmen, wartete darauf, dass sie über sie hinwegstiegen und sie nicht länger störten, damit sie nachdenken konnte. Als würde das irgendwas nützen.
* 21
Schlafen war nicht das Problem, sondern das, was ihr durch den Kopf ging, während sie wach lag: die Augenblicke nach dem Unfall, in einem grellen Blitz aufleuchtend, wie Jeff in ihrem Bett mit Stacey schlief (dem Bett, das Meg immer noch benutzte, obwohl sie es jede Woche abzog und die Matratze mit Lysol einsprühte, als könnte das die Erinnerung auslöschen), die Frau in der Reha, die sich in den Schlaf geschrien und sie alle entnervt hatte. Das war ihre Version davon, mit Bildern statt Wahnvorstellungen, ihre Dämonen real.
Ihr schmerzendes Knie unters Armaturenbrett gequetscht, war sie im Auto eingeklemmt gewesen, Blut war über ihr Gesicht gelaufen, hatte die Manschetten ihrer Bluse befleckt und ihre Brust befeuchtet. Aus irgendeinem Grund befand sie sich neben der Straße, und im Beifahrerfenster war ein Stück Drahtzaun zu sehen. Der Motor war aus, aber die Scheinwerfer brannten noch, der Tacho stand auf null. Der andere Wagen dampfte und war mit ihrem verkeilt wie bei einem T-Bone-Steak, die andere Fahrerin, eine Frau in ihrem Alter, war teilweise vom Airbag verdeckt, ihr Arm hob und senkte sich, als würde sie ihr winken, ihr signalisieren, dass sie Hilfe brauchte. Megs erster bewusster Gedanke nach dem Zusammenprall war witzigerweise, dass sie erleichtert war - weil sie nichts getrunken hatte -, als hätte die Frau sie genau zum richtigen Zeitpunkt erwischt. Sie wusste nicht, was passiert war, nur dass sie gefahren war. Sie trug keine Schuld.
Irgendwo hatte sie eine Zigarette gehabt - die ihr aus der Hand geschleudert worden war -, und sie dachte, die Autos könnten wie im Kino in Flammen aufgehen. Die Tür ließ sich öffnen. Sie schwang auf, Kälte und Schnee drangen ein und überfielen sie von allen Seiten. Megs Arme und ein Bein waren unverletzt, das andere konnte sie nicht bewegen. Sie dachte, dass längst jemand da sein müsste, wenigstens die Polizei. Die Straße war stark befahren, auch mitten in der Nacht.
«Hilfe!», hatte sie gebrüllt, aber der Schnee schien ihre Worte zu verschlucken. Die andere Frau hatte mechanisch mit der Hand gewedelt. Auf der Straße war ein anderes Auto vorbeigeschossen. «Helfen Sie uns», hatte sie mit schwacher Stimme gerufen. Um Himmels willen, halten Sie an.
Von den Augenblicken im Leben, die sie nie vergessen würde, fiel ihr dieser am häufigsten wieder ein. Diesen Augenblick betrachtete sie als Wendepunkt, als Grund dafür, dass sie ein anderer Mensch werden wollte, obwohl Jeff immer wieder darauf hingewiesen hatte - wie auch sie es tat, wenn sie sich erinnerte -, dass sie in jener Nacht nichts getrunken hatte.
«War reiner Zufall», hatte sie entgegnet, bis er ihr nicht mehr zuhörte. Das war, als Stacey die Bühne betrat, als sie nackt aus dem Bad kam, deutlich jünger als Meg, keck und unbekümmert, eine Geliebte, wie Jeff sie sich erträumt haben könnte, die auf dem Bett hüpfte wie auf einem Trampolin und mit der Hand die Stuckdecke zu berühren versuchte, während er neben ihr lachte und Meg in Winding Trails in ihrem Privatzimmer lag und unter der Bettdecke fror, die Operationsnaht am Knie noch nicht richtig verheilt. Nacht für Nacht
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