Abschied von Chautauqua
Tüte hatten ein blondes Haarbüschel und der Klebestreifen einer Slipeinlage gelegen. Sie hatte es niemandem erzählt, als hätte er sie gebeten, sein Geheimnis zu bewahren. Dadurch kam sie sich im Stillen außergewöhnlich und mächtig vor, als lebte sie in ihrer eigenen kleinen Welt, getrennt von allen anderen, an einem Ort, den niemand betreten konnte.
Vielleicht schlief er auch.
Oder vielleicht hatten sie sich fein gemacht und waren ins Kino oder in ein nettes Restaurant gefahren, und einen Augenblick lang sah sie die Blondine vor sich, schön und groß gewachsen, eine Frisur wie ein Fernsehstar, wäre am liebsten bei ihnen gewesen, statt hier im Bus, wo es stank wie bei Taco Bell. «Das ist meine Tochter Sarah», würde ihr Vater sagen, und die Frau würde sie mögen, weil sie wusste, wie viel Sarah ihrem Vater bedeutete. Sie wären eine neue, wunderbare Familie. Justin würde bei ihrer Mutter bleiben. Er würde im Sommer eine Woche zu Besuch kommen und darum betteln, dass er dableiben durfte.
Er schlief jetzt, sein Kopf war nach vorn gesunken. Sarah schob ihm Tigger unters Kinn, aber es half nichts. Sie nahm den zwischen ihnen liegenden Schlafsack, schob ihn vor die Tür auf der anderen Seite, dann zog sie seine Knie zur Seite, sodass er sich zurücklehnte. Er schmatzte und murmelte irgendwas, das war alles.
«Danke», sagte ihre Mutter, «das war nett», als wäre es was Besonderes, dass Sarah nett zu ihm war. «Du warst ziemlich still.»
So fing es immer an. Sie wollte bestimmt über Mark und über nächstes Jahr reden.
«Ich hab keine Lust mehr, im Auto zu sitzen.»
«Ich dachte, du würdest vielleicht Daddy vermissen.»
Das war eine heikle Frage, die ihre Mutter ihr den ganzen Sommer gestellt hatte. Normalerweise antwortete sie: «Ein bisschen», aber das würde jetzt nicht funktionieren.
«Ich vermisse ihn», sagte ihre Mutter, um Sarah zu ermutigen. «Ich bin es nicht gewohnt, den ganzen Weg allein zu fahren.»
Sarah wusste nicht, was sie sagen sollte. Es ist nicht deine Schuld. Das wollte ihre Mutter zumindest hören.
«Jetzt ist es schlimmer, denn im Sommer hat er am meisten Zeit mit uns verbracht», meinte ihre Mutter. «Wenn die Schule wieder losgeht, wird es wohl einfacher.»
Sie konnte ihr beipflichten und dann so tun, als würde sie einschlafen, das war ganz einfach. Aber sie brachte bloß hervor: «Vielleicht.» Und das war immer noch zu viel. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihre Mutter ihr ihre Gefühle entlockte. Dann schienen sie nicht mehr ihr zu gehören oder geheuchelt zu sein, genau das, was ihre Mutter brauchte.
«Dann bin ich noch mehr auf deine Hilfe angewiesen, bei Justin und im Haus. Kann ich mich darauf verlassen?»
Das konnte sie ihr aufrichtig versprechen.
«Danke.» Ihre Mutter schien überglücklich, als hätte Sarah ihr einen Riesengefallen getan. «Ich weiß, dass ich auf dich zählen kann.»
In Sarahs Kopf ertönte eine Klingel, wie in einer dieser Gameshows. Falsch, dachte sie, saß aber bloß im Dunkeln - als könnte niemand ihr hässliches, verborgenes kleines Herz sehen.
* 4
«Wenn ich hier noch länger sitze, schlafe ich wahrscheinlich ein», sagte Emily. «Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich ins Bett gehe.»
Warum muss sie so theatralisch sein?, dachte Lise. Natürlich hatten sie nichts dagegen.
«Wirklich nicht?», fragte Emily.
«Nein, geh nur», sagte Ken. «Ich bleibe auf, bis sie da ist.» Das hatte Lise erwartet, aber dass er es so offen sagte, vor allen anderen - es lag nicht daran, dass er ihr Meg vorzog oder dass sie eifersüchtig war. Es ging darum, dass er nicht mit ihr darüber gesprochen hatte, dass er ihr Einverständnis stillschweigend voraussetzte. Natürlich wollte er mit Meg allein reden, besonders jetzt. Und doch wollte sie plötzlich mit ihnen aufbleiben.
Es war reine Gier, dass sie an allem beteiligt sein wollte, was er tat, was ihm etwas bedeutete. Genauso wenig war sie eigentlich auf seine Arbeit neidisch, sie wollte bloß einbezogen werden. Das war genau das, wovor ihre Eltern sie gewarnt hatten, der Fluch des Einzelkinds. Morgen früh im Bett würde sie von Ken sowieso alles erfahren, und dieses Gespräch würde bedeutungsvoller sein, denn es fand unter vier Augen statt.
Außerdem war sie müde von der Fahrt und wollte in ihrem Buch lesen. Es war ein langer Tag gewesen. Sie hatte das Gefühl, immer noch im Auto zu
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