Abschied von der Küchenpsychologie
zurückziehen und Waffen lieben, wenn sie selten mit anderen Kindern zusammen friedlich spielen – dann sind das Anlässe, psychologische Beratung zu suchen. Denn mit dem Alter wird eine Einflussnahme immer schwieriger; die Vorbeugung kann nicht früh genug beginnen. Denkt man an Gehirnschädigungen durch Nikotin oder Alkohol während der Schwangerschaft, kann man sogar sagen: Die Vorbeugung beginnt schon vor der Geburt.
Kontexte: Gegen wen? Mit wem? Wann und Wo?
Kein Mensch, auch kein hochaggressiver, verhält sich permanent und überall aggressiv. Daher muss man immer auch schauen, in welchen Kontexten das Verhalten auftritt und in welchen nicht.
Hier ist zunächst zu bedenken, dass Aggression ein
interpersonales
, auf andere Menschen bezogenes Verhalten ist, und gewöhnlich werden nicht beliebige Menschen angegriffen. Ein Chef beschimpft vielleicht einige Mitarbeiter häufig und andere nie. Dieselbe Mutter, derselbe Vater misshandelt vielleicht das eine Kind, nicht aber die anderen. Dafür kann es verschiedene Gründe geben: Wie schwach oder mächtig ist die andere Person? Wie feindselig oder freundschaftlich ist die Beziehung zu ihr? Und natürlich auch: Gehen von der anderen Person Provokationen, Belästigungen usw. aus? Zuweilen sind zwei Menschen jeder für sich ziemlich friedfertig, aber wenn sie zusammentreffen, bilden sie eine explosive Mischung.
Ein weiterer interpersonaler Aspekt betrifft das kollektive Handeln. Es kommt vor, dass jemand als Einzelner recht unauffällig ist, aber in einer Clique schwerwiegende Taten begeht, beispielsweise Mobbing in der Schule oder fremdenfeindliche Anschläge. Um Mitläufer in einer gewalttätigen Gruppe zu werden, muss man nicht unbedingt hohe persönliche Aggressivität mitbringen.
Darüber hinaus hängt es von vielen
Situationsfaktoren
ab, ob aggressives Verhalten auftritt oder nicht. Dazu gehören sowohl negative Anlässe wie Provokationen als auch günstige Gelegenheiten, beispielsweise für eine gewaltsame Bereicherung. Weiterhin werden manche Taten erleichtert durch Faktoren wie Dunkelheit, Anonymität oder Abschirmung nach außen (wie bei innerfamiliärer Gewalt); enthemmend wirkt zudem Alkohol. Geweckt werden Hemmungen demgegenüber in Situationen mit hohem Entdeckungsrisiko oder an «Friedensorten» wie Kirchen und Krankenhäusern. All dies bestimmt also mit, wo und wann aggressive Handlungen auftreten oder unterbleiben.
Kein Erklärungseintopf
Aggressives Verhalten kann also unterschiedlich motiviert sein, und sein Auftreten hängt von allerlei Aspekten der Person und des Kontextes ab. Daher kann es nicht nur eine Antwort geben auf Fragen wie: «Warum Aggression?» oder «Wie entsteht Gewalt?»
In der Geschichte der Aggressionspsychologie wurden eindimensionale Erklärungen jedoch mehrfach versucht. Manche Theoretiker dachten an einen speziellen Trieb; sie nahmen also an, im menschlichen Organismus gebe es eine ständig fließende Quelle, aus der fortwährend aggressive Impulse sprudeln. Für diese Annahme gibt es keine empirischen Belege, aber viele Befunde, die ihr widersprechen. Eines der Gegenargumente sind die großen Unterschiede zwischen Individuen, aber auch zwischen Kulturen.
Ein anderer klassischer Ansatz versuchte, alles auf den Nenner «Frustration» zu bringen. Danach entstehen aggressive Impulse nicht von selbst, sondern als Reaktion auf bestimmte negative Ereignisse. Auch populäre Aggressionserklärungen gehen meist in diese Richtung, und sie ist sicherlich nicht ganz falsch, wie man vor allem an der Vergeltungsaggression sieht. Nicht erklären kann man damit aber aggressives Verhalten ohne negativen Anlass.
Hier hilft der lerntheoretische Ansatz weiter: Menschen lernen aus den Nutzeffekten aggressiven Verhaltens, sie ahmen aggressive Modelle nach, sie lernen auch, welche Aggressionshandlungen in ihrem Umfeld als legitim gelten. Aus den persönlichen Lerngeschichten kann man zum Gutteil erklären, warum Menschen in ihrer Aggressivität so unterschiedlich sind. Wie dargelegt, sind aber stets noch weitere Faktoren zu beachten, insbesondere der interpersonale Kontext: Wer gegen wen und gemeinsam mit wem?
Insgesamt sind mit den vorgestellten Arten der Aggression und den typischen Person- und Kontextfaktoren die meisten Aggressionshandlungen sicherlich recht gut zu erfassen – aber nicht alle. Vor allem bei Menschen mit einer besonderen psychischen Störung, etwa bei manchen Sexualstraftätern oder bei Psychopathen, braucht man noch
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