Abschied von der Küchenpsychologie
speziellere Erklärungen. Umgekehrt heißt das aber, dass man aus solchen Extremfällen keine Verallgemeinerungen über «
die
Aggression» oder über «
das
Böse im Menschen» ableiten kann. Wie gesagt: Aggression ist nicht gleich Aggression, Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Das anschließende Thema wird dies erneut unterstreichen.
10.5 Politische Gewalt: Krieg, Völkermord, Terrorismus
Es mag vermessen erscheinen, auf wenigen Seiten auch Weltprobleme wie Krieg, Genozid und Terrorismus zur Sprache zu bringen. Doch häufig werden solche Phänomene in einem Atemzug mit individueller Gewalt genannt – unter dem großen Etikett «
die
menschliche Aggression». Deshalb möchte ich auf einige Besonderheiten der «großen» Aggression im politischen Feld aufmerksam machen.
Gewalt ist politisch, wenn sie darauf gerichtet ist, gesellschaftliche oder internationale Ordnungen zu erhalten oder zu verändern. Dazu gehören vor allem ( 1 ) Kriege zwischen Staaten sowie Bürgerkriege als gegenseitige Gewalt, ( 2 ) Völkermord, Verfolgung und Vertreibung als mehr oder minder einseitige Gewalt und ( 3 ) Aufruhr, Rebellion und Terrorismus als Gewalt «von unten». Natürlich können mehrere Formen miteinander verflochten sein.
Psychologisch hoch bedeutsam ist in all diesen Fällen ein einfacher Tatbestand: Politische Gewalt ist nicht individuelle, sondern
kollektive
und mehr oder minder
organisierte
Gewalt, ausgeübt von Gruppen gegen Gruppen bzw. politische «Lager». (Umgekehrt ist nicht jede kollektive Gewalt politisch; so ist etwa Bandenkriminalität auf persönliche Ziele gerichtet, nicht auf gesellschaftliche). Psychologische Erklärungen zu politischer Gewalt haben daher drei Ebenen zu berücksichtigen:
die Beziehungen zwischen den Gruppen,
die Einflüsse innerhalb der jeweiligen Gruppe,
die einzelnen Personen.
Schon daraus wird deutlich, dass man politische Gewalt psychologisch nicht mit individueller Gewalt und politischen Frieden nicht mit persönlicher Friedfertigkeit gleichsetzen kann.
Natürlich gibt es auch Parallelen, vor allem bei den
Motivationen
hinter der Gewalt (s.S. 249 ). Mit der Zielsetzung, eine politische Ordnung zu erhalten oder zu verändern, ist die Gewalt eine Abwehr- oder Erlangungsaggression. Meist nimmt jede Partei für sich in Anspruch, dass sie sich lediglich verteidige, tatsächlich geht es aber oft um die Eroberung von Land und Bodenschätzen, um Machtpositionen oder die Durchsetzung einer Weltanschauung oder Religion. Überdies ist Politik ein emotionales Geschäft. Feindseligkeit gegen bestimmte Gruppen ist somit ebenfalls eine mögliche Motivation, und viele Gewaltakte dienen nur dem «Heimzahlen», also der Vergeltung. Nicht selten passiert es, dass es zu Beginn der Gewalthandlungen noch «um etwas ging», dass der Kampf dann aber als Folge der Gewalt («Was haben die uns Schlimmes angetan!») immer emotionaler wird und schließlich in Racheakte mündet, die auch der eigenen Gruppe mehr schaden als nützen. Allerdings: Die Motivation der politischen Führung ist nicht immer auch die Motivation der einzelnen beteiligten Menschen (s.u.).
Individuelle und politische Gewalt: psychologische Unterschiede
Individuelle Gewalt
Politische Gewalt
Einzelne Person als Aggressor
Kollektives, kooperatives Handeln
Meist gegen Einzelne gerichtet
Gegen eine andere Gruppe gerichtet
Aggressor und Opfer kennen einander meistens
Aggressor und Opfer kennen einander meist nicht als Person
Gewalt ist eigenmotiviert
Gewaltausübung ist bei vielen Akteuren fremdmotiviert (Befehle, Gruppendruck etc.)
Ausführung der «Gesamthandlung»
Arbeitsteilige Gewaltausführung, zerteilte Verantwortung
Häufig Hemmungen durch negative Konsequenzen und eigene Einstellung
Hemmungen oft vermindert durch Anonymität, Gruppenideologie etc.
Lernen in alltäglicher Sozialisation
Meist Schulung für Gewaltausübung (militärische Ausbildung o. dgl.)
Unabhängig von der Art der Motivation ist die
Situation
für den Einzelnen völlig anders als bei individueller Gewalt etwa in der Familie: Er ist von Mitakteuren umgeben und
beteiligt
sich an Gewalt. Wie die Geschichte zeigt, sind Menschen in solchem Kontext zu Destruktionen fähig, die sie als Einzelne niemals verüben würden. Die Tafel stellt typische Merkmale individueller und politischer Gewalt einander gegenüber. Im Kern geht es darum, dass bei politischer Gewalt das Handeln der Einzelnen auf eine gemeinsame Aktion hin
organisiert
wird, und dass sie nicht als Person X oder
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