Abschied von der Küchenpsychologie
Schon solche und ähnliche Fragen können erste Folgerungen nahelegen: Wenn das Problem nur in bestimmten Kontexten auftritt, könnte es mit einem spezifischen Motivations- oder Kompetenzmangel zu tun haben. Tritt es in sehr vielen Kontexten auf, ist eher eine allgemeine Störung der Aufmerksamkeit anzunehmen.
Person:
Was weiß man über ihre Fähigkeiten und Schwächen? Neigt sie zu impulsivem statt zu reflektiertem Verhalten? Steht sie oft «unter Dampf»? Neigt die Person zum Grübeln? Wirkt sie antriebslos und deprimiert?
Entwicklungsgeschichte:
Ist es ein altes Problem? Gibt es einen Zeitpunkt, an dem es begonnen hat? Wie sind die Angehörigen damit umgegangen?
Innere Prozesse:
Welche Gedanken und Emotionen stecken typischerweise hinter der Unkonzentriertheit? Zum Beispiel: Wird die Person durch Sorgen abgelenkt; durch welche? Denkt sie an Dinge, die sie viel lieber täte; an welche? Außenstehende können hierzu nur Vermutungen anstellen, es sei denn, die betroffene Person äußert sich selber. Viel hängt hier von einer vertrauensvollen Beziehung und einfühlsamen Gesprächen ab.
Insgesamt dürfte deutlich geworden sein, dass sich zu einem Problem namens «Konzentrationsschwierigkeiten» ohne nähere Angaben schwerlich ein Rat geben lässt, eher schon, wenn man es auf Schwierigkeiten «in folgender Hinsicht» eingegrenzt hat. Vor allem wenn eher ein allgemeines, nicht kontextspezifisches Problem anzunehmen ist, wäre das ein Grund, psychologische und/oder fachärztliche Hilfe zu suchen. In diese Konsultationen kann man dann die Informationen mitbringen, die sich aus den eigenen Erkundungen ergeben haben.
Beispiel: «Die Schüler schreien rum»
Bei dem Eingangsbeispiel mit dem problematischen Schülerverhalten (s.S. 79 ) wäre zu fragen: Welche Angaben sollte eine Lehrkraft machen, wenn sie von anderen Rat einholen möchte?
Zunächst:
Wer
ist mit «die Schüler» gemeint? Von wessen Verhalten ist die Rede? Schreien alle, schreien viele, schreien einige? Sind es immer dieselben? Geht es also eher um individuelle Auffälligkeiten oder eher um kollektives Verhalten? Ein Problem mit einigen notorischen Schreihälsen ist jedenfalls nicht dasselbe wie ein Klassenproblem. Zu wissen, wer typischerweise beteiligt ist und wer nicht, macht die Sache schon etwas transparenter. Und natürlich erfordert ein Klassenproblem ein anderes Vorgehen als ein individuelles (s.S. 99 f.).
Nun zum
Verhalten
: Was heißt «schreien»? Ist es sozusagen lautes Sprechen? Ist es aggressives Anschreien? Werden Unterrichtsbeiträge ohne Meldung in den Raum gebrüllt? Rufen sich Schüler/innen etwas Privates zu? Oder was ist gemeint?
Dies führt auch schon zum
situativen Kontext
. Der ist wichtig, denn niemand schreit von früh bis spät, auch Schüler nicht. Wann und wo also tritt das Verhalten typischerweise auf? In der Pause? Im Unterricht? Besonders zum Stundenbeginn? Nach einer Lehrerfrage? Bei Gruppenarbeit? Bei Unterbrechungen des Unterrichts? Wenn die Lehrkraft an der Tafel steht? Oder bei welchen Anlässen? Ebenso wichtig: Gibt es auch ruhige Phasen (z.B. bei kleinen Tests)? Sollte beispielsweise herauskommen: Sobald die Lehrkraft eine Frage stellt, brüllen alle ihre Antworten in den Raum – dann würde man speziell dafür eine Lösung suchen.
Vom
interpersonalen Kontext
war indirekt bereits die Rede. Bei
kollektivem
Verhalten ist die Interaktion ein zentraler Punkt, in diesem Fall: die wechselseitige Ansteckung. Bei genauem Hinsehen können aber auch besondere Schülerbeziehungen eine Rolle spielen, z.B. rivalisierende Cliquen, die sich gegenseitig anschreien. Und nicht zu vergessen: Zum interpersonalen Kontext gehört auch die Lehrkraft! Tritt das problematische Verhalten gleichermaßen bei allen Lehrkräften auf oder nur bei bestimmten?
Mit
personalen
Aspekten würde man sich in diesem Fall nur dann näher beschäftigen, wenn einzelne Schüler bei dem Problem eine besondere Rolle spielen. Dann würden z.B. Erkenntnisse über deren Fähigkeiten und Defizite, ihr Temperament und ihre soziale Kompetenz zum Verständnis des Problems beitragen. Kennt man auch deren persönliche Interessen und Vorlieben, so lassen sich daraus zuweilen individuelle Anreize zur Förderung «guten» Verhaltens ableiten.
Noch bedeutsamer könnten Aussagen zu personalen Aspekten der
Lehrkraft
sein, etwa zu ihrer emotionalen Belastbarkeit oder ihrem typischen Umgang mit Konflikten. Denn falls das Schülerverhalten stark lehrerabhängig ist,
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