Abschied von der Küchenpsychologie
liegt im Lehrerverhalten der wichtigste Ansatzpunkt für eine Problemlösung (s. auch Kapitel 11.5 zu Disziplin).
Mit den
Entwicklungsfaktoren
einzelner Schüler wird man sich meist nur am Rande beschäftigen können. Hilfreich kann es sein, wenn die Lehrkraft ihre eigene berufliche Lerngeschichte zu verstehen sucht: Warum neige ich zu diesem oder jenem Verhalten? Beachtung verdient sicherlich auch die Vorgeschichte der Lehrer-Schüler-Beziehung. Vermutlich haben beide Seiten im Laufe der Zeit wechselseitig ein Bild voneinander entwickelt, das mit entsprechenden Gefühlen und Verhaltenstendenzen einhergeht. Eine Problemlösung ist dann vermutlich nicht von heute auf morgen und nicht durch eine einzelne Maßnahme zu erreichen.
Die zwei Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, ein Problem zu spezifizieren. Natürlich ergibt sich damit nicht automatisch schon eine Lösung. Aber ein genaueres Verständnis öffnet häufig den Blick für mögliche Ansätze, oder durch die gewonnene Klarheit geht man gelassener mit dem Problem um, oder man erkennt, dass man sachkundigen Rat einholen sollte.
5.2 Einfache diagnostische Hilfen
Ging es zuvor um die Suchbereiche, in denen man (Teil-)Erklärungen für ein Verhaltensproblem finden kann, so geht es jetzt um
Wege
, diese Bereiche genauer zu erfassen. Dabei sind hier nur einfache diagnostische Hilfen gemeint, die man auch als Laie einsetzen kann, hingegen keine professionellen Methoden wie etwa psychologische Tests. Solche Hilfen sind vor allem: ( 1 ) genaue Beschreibung, ( 2 ) gezielte Beobachtung, ( 3 ) Selbstreflexion, ( 4 ) Perspektivenübernahme und Einfühlung, ( 5 ) Gespräch und Befragung. Sie können systematischere und differenziertere Erkenntnisse liefern als eine intuitive Einschätzung auf den ersten Blick.
Genaue Beschreibung und gezielte Beobachtung
Es ist immer gut, ein Problem zunächst einmal genau und nüchtern zu beschreiben. «Genau» heißt: Man hält sich an konkrete Sachverhalte, die man sehen oder hören kann. Und «nüchtern» heißt: Man verzichtet auf alle Wertungen, Deutungen, Erklärungen oder gar Schuldzuweisungen. Denn es kommt zunächst nur darauf an, Tatsachen zu erfassen. Eine ganz andere Frage ist dann, wie man sie interpretiert und bewertet.
Konkrete Beschreibungen sollten, wie erwähnt, Angaben zum Verhalten und zu beobachtbaren Kontextfaktoren enthalten. Beispiele:
Statt einer allgemeinen und wertenden Aussage wie «Jan ist furchtbar unkonzentriert» könnte man das Problem etwa so beschreiben: «Bei den Hausaufgaben (= situativer Kontext) steht Jan oft vom Schreibtisch auf (= Verhalten).» Oder: «Er wechselt minutenweise (= Verhalten) zwischen Hausaufgaben und Gitarre (= situativer Kontext).»
Statt der pauschalen Aussage «Sie verhält sich total dominant» spezifiziert man z.B. so: «In unserer Gruppe (= interpersonaler Kontext) redet sie fast immer am längsten, fällt anderen häufig ins Wort, argumentiert weiter für ihre Lösung, selbst wenn sich die Mehrheit schon anders entschieden hat».
Statt «Lola ist ein aggressives Kind» wäre diagnostisch informativer: «Lola reißt kleineren Kindern (= interpersonaler Kontext) häufig ihre Sachen weg», oder «Sie brüllt laut, wenn ich (= interpersonaler Kontext) ihr im Supermarkt eine Leckerei verwehre (= situativer Kontext).»
Solche konkreten Beschreibungen enthalten nicht selten Hinweise auf Veränderungsmöglichkeiten. Vielleicht würde es Jan die Selbstkontrolle erleichtern, wenn die Gitarre in einem anderen Raum läge. Oder: Falls es im Supermarkt nie ein Drama gibt, wenn Tante Susi mit Lola einkauft, könnte man schauen: Was macht Tante Susi anders?
Die
inneren Prozesse
kann man naturgemäß nicht wahrnehmen und beschreiben – außer vielleicht bei sich selbst. Hier kann die Beschreibung als Ich-Botschaft formuliert und vielleicht auch mit einer Angabe zum Ausprägungsgrad verbunden werden:
«Ich merke, es macht mich kribbelig, wenn ich ein unaufgeräumtes Zimmer vor mir sehe.»
«Immer wieder kommen mir Gedanken, die mich von der Aufgabe ablenken.»
«Meine Angst zu Beginn der Prüfung lag auf einer Temperaturskala von 0 bis 100 etwa bei 70 .»
Einschätzungen zum Ausprägungsgrad sind bei Personfaktoren besonders geläufig. Man sagt beispielsweise: «Oskar ist
ziemlich
ehrgeizig», «Ines kann
sehr
lebendig vorlesen», «Ich bin
wenig
interessiert an moderner Kunst.» Solche Aussagen über das Typische eines Menschen sind eine Zusammenfassung mehrerer
Weitere Kostenlose Bücher