Abschied von Eden
mir, daß Haschem mir die Zerbrechlichkeit des Lebens vor Augen führen wollte. So wie das Leben dieses Jungen in meinen Händen war, so bin ich in den Händen von Hakodausch Boruch Hu. Das war auch der Sinn der biblischen Opfer. Meinen Sie, Haschem brauchte von uns eine Ziege oder einen Widder für sein Ego?« Der alte Mann streckte einen Finger in die Luft. »Natürlich nicht!«
Decker lächelte.
»Haschem wollte uns klarmachen, an was für einem dünnen Faden unser Leben hängt. Gerade war das Tier noch lebendig, voller Kraft und Energie. Und eine Sekunde später war es tot. So war das auch mit diesem Jungen. Diese Träume kommen, damit ich demütig bleibe, Akiva. Damit ich begreife, daß wir sterbliche Geschöpfe sind.«
»Nichts macht einem seine Sterblichkeit so bewußt wie ein Krieg«, sagte Decker.
Schulman klopfte ihm auf die Schulter. »Wenn ich Ihre Qualen deuten soll, würde ich sagen, daß Sie im Tod dieses jungen Mädchens Ihre eigene Sterblichkeit gesehen haben. Und das hat Ihnen Angst gemacht. Den Tod hautnah zu erleben, ein Leben zu nehmen – das ist einfach erschreckend und grauenhaft. Es wird einem erst klar, was für eine Angst man hatte, wenn es vorbei ist. Erst ist man erleichtert, daß man es hinter sich hat … dann wird man wütend. Wie wenn man merkt, daß jemand einem einen Streich gespielt hat. Je mehr Angst man hatte, um so wütender wird man hinterher. Und die Wut kann einen lange Zeit nicht loslassen.«
»Sie waren also wütend?« fragte Decker.
»Zornig! Erbittert! Von dem Gedanken an Rache besessen!«
»Und wie sind Sie diese Wut losgeworden?« fragte Decker.
»Wer hat denn gesagt, daß ich das bin?« brauste der alte Mann auf. »Ich bin immer noch ein zorniger Mensch! Zum Beispiel wenn ich einen Artikel in der Zeitung über diese Mamzer vom Historical Review lese – diese Nazi -Mamzer, die behaupten, der Holocaust hätte nie stattgefunden. Oder wenn ich was über Skinheads lese. Ich würde sie am liebsten umbringen. Aber ich tue es nicht. Und Sie können ruhig mal wütend werden und auf die Scheune schießen, aber Sie würden doch nie jemanden ermorden, oder?«
»Nein«, sagte Decker.
»Bitten Sie Gott um Vergebung, Akiva«, sagte Schulman. » Hakodausch Boruch Hu ist der einzige, der Ihnen Trost geben kann. Aber das habe ich Ihnen ja schon gesagt.« Er stand auf und deutete Decker an, das gleiche zu tun. Der alte Mann umarmte ihn fest, dann sah er ihm in die Augen. Die Arme immer noch um ihn gelegt, sagte er: »Dann, mein Sohn, mußt du den Mut haben, dir selbst zu vergeben.« Er ließ ihn los. »Genug der Vergangenheit. Jetzt wollen wir ein bißchen den Talmud studieren.«
28
Es war ein Wochenende voll blutiger Albträume mit so realistischen Bildern, daß Decker nach dem Aufwachen jedes Mal völlig desorientiert war. Sein Herz raste, seine Haut war feucht und klebrig, und in seinen Eingeweiden saß die nackte Angst. Am Montag morgen war es besonders schlimm, weil er sein Schlafzimmer verlassen und sich der Welt stellen mußte. Er brauchte eine Ewigkeit, um sich zu duschen und zu rasieren, sich anzuziehen und seine Morgengebete zu sprechen. Er fühlte sich unbeseelt, abgetrennt von seinem Körper – eine Serie von Schaltkreisen, die auf eine bestimmte Routine programmiert waren. Es war, als hätte er den Kontakt zu sich selbst verloren. Ohne zu frühstücken fuhr er zur Arbeit.
Er wußte, daß der Job ihn schon wieder in die Gegenwart zurückholen würde. Unter vertrauten Menschen in einer vertrauten Umgebung würde es schon gehen, würde er in der Lage sein zu funktionieren. Doch die Fahrt auf dem Freeway über die Berge hatte etwas Surreales an sich. Die dunstigen Hügel schienen mit dem Asphalt zu verschmelzen, die Autos waren nur verschwommene Blechgebilde – futuristische Kakerlaken, die vor der immer heißer werdenden Sonne davonrasten. Selbst das Polizeigebäude wirkte merkwürdig – ein Haus mit schmutzigem weißem Putz, das man mitten in ein abgebranntes Feld gesetzt hatte. Der Scherz eines außerirdischen Architekten.
Was Decker dann schließlich auf die Erde zurückholte, war der Geruch von Hollanders Pfeife.
»Bist du heute morgen untern Traktor gekommen?« fragte Hollander.
Decker sah auf die Uhr – Viertel vor neun. »Ich glaub’, ich ruf erst mal Marge an.«
»Ich hab’ grad mit ihr gesprochen, Pete. Sie hört sich sehr viel besser an als du.«
»Es geht ihr also ganz gut?«
»Soll um zehn entlassen werden. Ihr derzeitiger Verehrer holt sie
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