Abschied Von Freistatt
seine Augen wurden groß und er hob die Hand, um einen Angriff abzuwehren. Chenaya grinste. Er wußte offensichtlich viel über Pferde, mußte jedoch noch einiges über Vögel lernen und darüber, wie man sich ihnen nähert. Sie blickte zum Stalleingang. Der Graue stand dort, fertig gesattelt.
Später würde noch genug Zeit sein, mit dem Fohlen zu spielen, aber jetzt galt es, eine Sache zu Ende zu bringen. Sie beruhigte Reyk, indem sie ihn zart am Kopf kraulte. Vielleicht hätte sie ihm heute morgen die Haube überstreifen sollen, doch das hatte sie noch nie getan. Er war nur aufgeregt darüber, sie zu sehen.
Der Stallmeister eilte ihr voraus und stellte eine Trittleiter bereit, damit sie mit dem Falken auf dem Arm aufsitzen konnte. Als sie im Sattel saß, lehnte sie sich weit genug hinunter, um die Schulter des Stallmeisters zu berühren. Das war der einzige Dank, den sie ihm erweisen konnte. Sie lenkte das Pferd vom Stall fort und wartete, während er ihr das Südtor öffnete und es wieder hinter ihr schloß.
Chenaya blickte Reyk an und streichelte ihn wieder am Kopf. Bereit für etwas Bewegung, mein Falke? dachte sie still. Sie schwang den Arm nach oben und ließ gleichzeitig die Wurfleine los, und Reyk schwang sich empor. Sie sah ihm zu, als er höher und höher kreiste am schiefergrauen Himmel. Dann ritt sie los, wohl wissend, daß er ihr folgen würde.
Sie ritt auf Freistatts große Mauer zu und folgte ihr südwärts zum Goldtor, dabei ritt sie auf dem gleichen Weg zurück, den sie vergangene Nacht gekommen war. Der Falke war schneller und wartete oben auf dem Tor auf sie, als sie ankam. Dann rief er ihr zu und hob sich wieder in den Himmel. Zwei Wächter am Posten sahen zu, als sie hindurchritt. Diesmal versuchten sie nicht, sie aufzuhalten.
Die Uferpromenade war voller Karren und Leute, die ihren morgendlichen Geschäften nachgingen. Manche blickten lächelnd auf und sahen ihr nach. Andere ignorierten sie absichtlich. Es machte ihr nichts aus. Sie atmete tief die windige, salzige Luft ein. Weit draußen auf dem Meer schnitten die weißen Segel der Fischerboote und der beysibischen Schatzboote durch die aschfarbenen Wolken.
Auch die Zufluchtstraße war sehr belebt, und das überraschte sie. Freistatts Bevölkerung schien während ihrer Abwesenheit gewachsen zu sein. Auf den Straßen wimmelte es in krassem Kontrast zur Leere der vergangenen Nacht. Sie war gezwungen, ihr Pferd Schritt gehen zu lassen, als sie in die Tempelallee einbog.
Plötzlich verschwamm alles vor ihren Augen. Sie packte den knauflosen Rand ihres Sattels und preßte die Beine gegen den Brustkorb ihres Pferdes, um nicht zu fallen. Eine seltsame
Dunkelheit umgab sie, obwohl sie wußte, daß sie die Augen offen hatte. Aus dieser Dunkelheit wirbelte derselbe in ein Totentuch gehüllte Leichnam heran, den sie in der vergangenen Nacht für einen Traum gehalten hatte. Er kam geradewegs auf sie zu, und das Tuch teilte sich vor seinem grausigen Gesicht. Der augenlose Blick begegnete ihrem.
Die Schwärze und die Vision zerstoben in einem Schwall roter Funken, und Schmerz schoß durch Chenayas Körper. Sie öffnete langsam die Augen und fand sich auf dem Boden. Sie war also doch vom Pferd gefallen. Menschen drängten sich um sie, als sie versuchte, Atem zu holen.
Eine alte Frau, deren kräftig rot gefärbtes Haar in alle Richtungen vom Kopf abstand, stellte ihren Einkaufskorb ab und beugte sich über Chenaya. Sie hatte die Augen zusammengekniffen, und ihr runzeliges Gesicht verriet Besorgnis. »Seid Ihr in Ordnung, Kleine?« Sie wiederholte ihre Frage wieder und wieder und nahm Chenayas Hand in die ihre.
Chenaya riß plötzlich die Augen auf, als die alte Frau sie berührte, sie sah hoch zum Himmel und entdeckte auch schon Reyk, der in todbringendem Sturzflug herangebraust kam. »Zurück!« schrie sie und stieß die alte Frau von sich. In letzter Sekunde gelang es ihr, den Lederhandschuh hochzuhalten und ein schrilles Pfeifen auszustoßen. Reyks Gewicht schlug wie ein Stein gegen ihr Handgelenk, aber sie fing seine Wurfleine und hielt ihn sicher.
Sie blickte zu der alten Frau, die nun neben ihr lag. »Es tut mir leid«, sagte sie mit erleichtertem Seufzen. »Er dachte, Ihr würdet mich angreifen.«
Die alte Frau lächelte etwas benommen. »Ist schon in Ordnung«, murmelte sie und starrte Reyk an, als ihr auf die Beine geholfen wurde. »Ist schon in Ordnung. Ihr Leute von Landende wart schon immer gut zu einigen von uns«, sagte sie zu
Weitere Kostenlose Bücher