Abschied Von Freistatt
beleuchtete. »Das ist meine Schuld!« brüllte sie über den anschwellenden Wind hinweg. »Solange ich schwieg, konnten die Hohenpriester in Ranke das Juwel nicht finden.« Sie umklammerte wieder den kleinen Beutel. Das Licht aus dem Inneren war nun so stark, daß die Knochen ihrer Finger durch die Haut zu sehen waren. »Ich wagte nicht einmal zu schlafen, aus Angst, in meinen Träumen zu sprechen. Aber ich brach meinen Eid, um das Leben einer alten Frau zu retten. Die Priester in Ranke üben immer noch nicht zu unterschätzende Magie aus. Sie wissen nun, wo ich bin. Der Klang meiner Stimme hat meinen Aufenthaltsort verraten. Gott selbst hatte mich gewarnt, daß es so sein würde, denn die Priester wollen den Stein zurück.«
»Aber Savankala will ihn hier!« antwortete Rashan, und seine Stimme wurde schrill wie der Wind. »Was kann ich tun?« fragte er händeringend.
Sie packte ihn wieder vorne an seinem Gewand und zog ihn zu sich. Der Wind kreischte jetzt, als wollte er ihre Stimme auslöschen und sie am Weiterreden hindern. »Grabt aus, was hier liegt!« befahl sie. »Der Leuchtende Vater duldet es nicht. Oder das Feuer im Auge Gottes kann unter diesem Dach keine Heimstatt finden. Reinigt diesen Ort. Nehmt jeden Eurer Priester, und bereitet alles vor so schnell Ihr könnt!«
»Wieviel Zeit bleibt noch?« schrie er.
Chenaya sah hoch zum schwärenden Himmel. »Sehr wenig«, antwortete sie schaudernd. »Tut, was ich Euch sage«, forderte sie. »Der Brillant muß bei mir bleiben, bis alles fertig ist. Ich schicke Dayrne und einige Männer, die beim Graben helfen sollen. Er wird auch der Bote sein. Sendet ihn zu mir, zu unserem Tempel am Fuchsfohlenfluß, sobald die Arbeit getan ist!«
Rashan rannte zurück in den Tempel, um seinen Priestern Anweisungen zu erteilen, und Chenaya lief zu ihrem Pferd. Von Reyk war nichts zu sehen. Staub ließ ihre Augen tränen, als sie aufsaß und davonjagte. Die Straßen waren fast leer, dennoch ritt sie beinahe einen unachtsamen Fußgänger nieder. Er fluchte, sie fluchte, und dann preschte sie weiter.
Menschen saßen zusammengedrängt in Torbögen, in Ecken und schmalen Gassen, unter Karren, hinter Fässern und Kisten, alle geduckt, die Gesichter halb verborgen hinter Tüchern, Umhängen oder Krägen. An den Piers knarrten und ächzten Schiffe und Planken. Segel knallten wie zornige Peitschen, und Takelagen summten wild. Die Wogen waren weiß gekrönt von Gischt.
Chenaya jagte durch das Goldtor und entdeckte endlich auch Reyk hoch über ihr. Kurz darauf kam sie am südlichen Tor von Landende an. »Laßt mich rein!« schrie sie. »Laßt mich rein!«
Der Stallmeister öffnete ihr das Tor. Sie jagte ohne ein erklärendes Wort an ihm vorbei und hielt auf die Übungsplätze zu. Dort fand sie Dayrne, der seine Gladiatoren selbst im Angesicht des heranziehenden Sturmes drillte. Seine Miene erhellte sich, als er sie kommen sah, aber sie hatte keine Zeit für freundliche Worte.
»Nimm so viele Männer wie du kannst, und brich sofort auf!« sagte sie laut genug, daß es jeder hören konnte. Er starrte sie mit offenem Mund an, als er sie sprechen hörte. Dann schloß er ihn hastig. Er kannte sie gut, und ein Blick sagte ihm, daß sie todernst war. »Nehmt Schaufeln, und tut, was Rashan euch befiehlt.« Bereits halb abgewandt fügte sie hinzu: »Es wird wahrscheinlich Ärger mit Walegrins Männern geben. Haltet sie auf Distanz.«
Sie eilte davon und dachte an Dayrnes plötzliches Grinsen, als sie das Feld überquerte und vor dem Zeughaus anhielt. Sie saß ab. Die Tür war unverschlossen. Sie eilte an den Regalen mit den hölzernen Übungswaffen vorbei und wählte vier gute
Schwerter mit Scheiden, deren Gewicht und Ausgewogenheit ihr zusagten. Mit dem Schwert an ihrem Gürtel hatte sie nun fünf Klingen. Sie betete, daß das genug sein würde.
Die Schwerter unter einen Arm geklemmt saß sie schwerfällig wieder auf. Reyk sprang vom Rand des Zeughausdaches und schrie schrill, um sie wissen zu lassen, daß er noch in der Nähe war. Sie ritt los, zwischen den riesigen Übungsmaschinen hindurch, warf einen Blick zu den Stallungen und freute sich zu sehen, daß Dayrnes Streitmacht sich dort schon versammelte.
An der Ostmauer von Landende gab es ein weiteres doppelflügeliges Tor mit einem Holzriegel. Ohne abzusteigen mühte sie sich, es zu öffnen, wobei ihr beinahe die zusätzlichen Waffen entglitten, aber schließlich gelang es ihr. Sie sprengte hindurch und ließ die Torflügel im Wind
Weitere Kostenlose Bücher