Abschiedskuss
Haarbüschel löst sich, verschwindet im Wasser. Wieder tätschele ich ihre Wange. Ich werde nicht die Kraft aufbringen, sie über Wasser zu halten.
Sie ist bereits so weit untergetaucht, dass die Ohren unter der Oberfläche sind.
»In welchem Jahr befinden wir uns?« Ich schreie fast. Sie dreht die Pupillen in meine Richtung, und ich finde, dass sie unendlich traurig aussieht.
»1984«, flüstert sie und schließt die Augen. Plötzlich zuckt der kraftlose Körper, setzt sich in der Wanne kerzengerade auf und ruft:
»Harriet! Dreh lauter, mach Wein auf, jetzt kann’s losgehen!«
Ich sitze auf dem nassen Badezimmerfußboden und versuche rückwärts zu entkommen, als sie ihren Oberkörper und ihre gespreizten Arme zu mir herumdreht.
»Du bleibst doch?«, haucht die monotone Stimme. Die Augen bewegen sich hinter geschlossenen Lidern. »Du kommst doch zu unserer Party? Ich glaube, sie wird etwas ganz Besonderes.«
»Danke, Emma«, flüstere ich so leise, dass es kaum zu hören ist. »Emma Isherwood?«
Sie nickt fast unmerklich und verzieht die Lippen. Diese Zähne.
»Ich kann leider nicht bleiben«, sage ich, während ich mich stolpernd erhebe und rückwärts das Badezimmer verlasse.
Das Schlafzimmer wirkt still und leer, aber ich habe nicht die Absicht, mich näher umzusehen. Mein Mantelsaum ist klitschnass, und die Tropfen hinterlassen ein gesprenkeltes Muster auf dem Fußboden. Ich taste wie eine Blinde herum, und gerade als ich mit meinen Fingern den vertraut-verschlissenen Schulterriemen meiner Tasche zu fassen bekomme, höre ich, wie sie keucht:
»Schade.«
Dann schlägt die Türe zu.
20. Kapitel
»Aber wie traust du dich nur, dort zu schlafen, Maja? Wie traust du dich überhaupt noch, dort allein hineinzugehen?«
Ashley reinigt seine teuren Pinsel in einem mit Wasser gefüllten, alten Marmeladenglas. Er schüttelt sie und trocknet die Marderborsten mit etwas Küchenkrepp, ohne sie dabei mit den Fingern zu berühren. Denn das Hautfett könnte die Saugkraft der Pinsel vermindern.
»Weiß nicht. So ist das wohl mit unheimlichen Ereignissen, sie verblassen in der Erinnerung manchmal rasch. Aber erzähl Nikita nichts davon«, bitte ich und umklammere meine Knie. Ich sitze auf seinem Bett.
»Natürlich nicht, das ist doch logisch«, sagt Ash und legt sich seinen langen Schal um den Hals. »Aber findest du nicht, dass …«
»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob da wirklich etwas war«, unterbreche ich ihn und fasse mir an die Stirn. Sie ist etwas feucht und ziemlich heiß. Die Jacke kratzt stark. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie das je zuvor getan hat. Ich habe das Gefühl, als würde ich Fieber bekommen.
»Es war irgendwie so unwirklich. Ich bin empfindsam, das weißt du ja. Ich habe manchmal Halluzinationen.«
»Hm«, sagt Ash. »Das gefällt mir überhaupt nicht. Ganz ehrlich! Bist du sicher, dass du nicht mit ins Kino willst?«
Ich recke den Hals und betrachte einen zum Trocknen aufgehängten Papierbogen, ein Stillleben, zarte Schnittblumen und diamantfarbene Früchte. Er ist mit der Aufgabe für diese Woche bereits fertig. Ich habe noch nicht einmal angefangen. Mir wird leicht übel, als ich mich erhebe.
»Nein, ich habe keine Zeit. Danke fürs Zuhören«, sage ich leise. »Ich muss jetzt hoch zu mir.«
»Bis Weihnachten solltet ihr mindestens ein ganzes Skizzenbuch gefüllt haben.«
Aha. Chesterfields Worte hallen mir noch in den Ohren, als ich die Umrisse der drei Zwiebeln zeichne, die vor mir auf dem Schreibtisch liegen. Das wird nichts. Zu banal, zu starr. Eher willkürlich beginne ich nun mit meinem etwas zu weichen Bleistift, die Formen zu schattieren. Immerhin macht es mir Spaß, das Papier zu tönen, die Flächen zu füllen. Aber es ist zu viel, ich sehe es, ich höre jedoch erst auf, als der Stift zu stumpf ist, um weiter zu schattieren. Ein feiner grauer Staub hat sich in die Hautporen an der Seite meines kleinen Fingers und meines Handballens gesetzt. Ich seufze, lege den Bleistift beiseite und schlage ein frisches Blatt auf.
Aus der Erinnerung zeichne ich einen kleinen schwarzen Schuh. Ich weiß nicht, warum. Es ist ein hässlicher, lustiger kleiner Schuh mit geschwungenem Absatz. Er erinnert an ein Paar, das ich in einem Secondhandladen in der Stadt gesehen habe. Ich zeichne die Kurven prägnanter und die Schnürsenkel kräftiger, als sie eigentlich sein sollen. Ich bringe auch eine große, verschnörkelte Schleife unter. Das eine Ende ringelt sich ein Stück hinter den
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