Abschlussfahrt
einem hohen und dazu noch total schiefen Turm! Wie soll ich denn ausgerechnet hier nicht an meine Höhenangst denken? Und jetzt komm gefälligst wieder her und nimm meine Hand! Und wehe, du lässt sie noch mal los oder versuchst sonst irgendwelche blöden Tricks! Das ist mein Ernst, kapiert?«
Ich schnappe mir ihre Hand und stelle mich neben sie an die Wand. Sie drückt sich zitternd an mich. War wohl doch keine so tolle Idee mit der Ablenkung. Aber ich wollte ihr doch nur helfen.
»Sorry«, sage ich leise. »War nicht böse gemeint.«
»Ich weiß. Schon okay. Komme mir ja selbst total bescheuert vor. Höhenangst ist echt ätzend.«
»Nicht mehr lang«, versuche ich sie zu trösten und lege meinen Arm um ihre Schultern. »Halt durch, du hast es bald hinter dir.«
»Na, hoffentlich«, seufzt sie.
Ich knipse wortlos ein paar Fotos mit ihrem Handy und stecke es ihr zurück in die Jacke.
»Danke«, lächelt sie und öffnet sogar kurz die Augen dabei.
Ich lächle zurück, aber das sieht sie schon wieder nicht mehr.
Was treiben eigentlich die anderen? Ich sehe mich nach Marlon und dem Rest um. Ah, da sind sie ja. Sie stehen links von uns direkt am Geländer und Marlon tut gerade so, als würde er Lars hinunterwerfen wollen.
»Marlon!«, bellt Wuttke ihn an. »Lass den Blödsinn!«
»Was macht Marlon denn schon wieder?«, fragt Nele.
»Er versucht, Lars runterzuwerfen«, antworte ich.
»Das ist doch kein Blödsinn«, grinst sie. »Das wäre ein großer Dienst an der Menschheit.«
Genau das mag ich an Nele, ihren bösen Humor.
Die Panzer und ein paar letzte Nachzügler aus unserer Klasse kommen endlich oben an.
Wuttke klatscht laut in die Hände, um sich Gehör zu verschaffen.
»Sind wir vollständig? Sehr schön. Dann kann ich ja anfangen.«
Er zieht ein Notizbuch aus der Tasche und blättert darin, bis er die richtige Seite gefunden hat.
»Also«, sagt er und räuspert sich. »Alle bitte gut zuhören. Wir werden nach der Fahrt eine Klassenarbeit über diesen Ausflug schreiben.«
Allgemeines Gemaule und Buhrufe.
»Hey, hey, Ruhe! Immerhin ist das Ganze hier eine sogenannte Studienfahrt. Was bedeutet, dass ihr etwas schlauer nach Hause kommen solltet als ihr vorher wart. Also, aufgepasst: Der Grundstein für den Campanile wurde am 9. August 1173 gelegt. Und es dauerte fast zweihundert Jahre, bis 1372, bis er fertig war.«
Na super. Ich hatte es geahnt. Wir sollen hier auch noch was lernen. Dabei haben wir das alles bereits lang und breit im Vorfeld durchkauen müssen. Und wenn ich es mir schon vor ein paar Wochen nicht merken konnte, wieso dann jetzt?
»Die Legende besagt, dass Galileo Galilei hier auf dem Turm die Fallgesetze entdeckt hat. Bewiesen ist das allerdings nicht.«
Ja toll. Und warum müssen wir es dann lernen? Ich dachte immer, Geschichte beruht auf Fakten, nicht auf Legenden.
»Die Schräglage trat bereits ein, als die ersten drei Stockwerke fertig waren. Wie sich herausstellte, steht der Turm am Rand einer ehemaligen Insel, und zwar … Marlon! Das darf doch nicht wahr sein! Hör sofort auf, da runterzuspucken!«
»Ich wollte nur mal eben die Fallgesetze überprüfen, Herr Wuttke«, grinst Marlon. »Falls das auch in der Arbeit drankommt.«
»Ich kann dir auch gerne gleich eine Sechs eintragen«, knurrt Wuttke. »Dann kannst du die Sitzenbleibgesetze ein ganzes Jahr lang überprüfen.«
»Nein, danke«, erwidert Marlon. »Das hab ich schon mal gemacht, äußerst unspannend, da laufen nur Wiederholungen.«
»Schluss jetzt mit dem Blödsinn! Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, der Turm wurde am Rand einer ehemaligen Insel errichtet, und zwar direkt neben einem Hafenbecken, das zur Bauzeit bereits versandet war. Die nächsten vier Stockwerke mussten …«
Bla, bla, bla und so weiter und so fort, wen interessiert das? Ich habe schließlich nicht vor, Architektur zu studieren. Geschweige denn Geschichte.
Fünfzehn quälend langweilige Minuten später: Wuttke ist endlich fertig mit seinem Vortrag. Und so toll ich die Aussicht hier oben auch finde, das reicht jetzt. Außerdem habe ich langsam einen Bärenhunger. Das italienische Frühstück war zwar okay, ist aber mittlerweile eine Ewigkeit her. Und wenn Nele sich noch länger so fest an meinen Arm krallt, fällt er ab. Kurzum: Ich will endlich wieder runter!
»So!«, ruft Wuttke in die Menge. »Wir treffen uns alle unten vor dem Eingang und gehen gemeinsam in den Dom! Und seid bitte vorsichtig beim Runtersteigen!«
Oh, Scheiße,
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