Absender unbekannt
Lebensaufgabe?“ Wieder hüpfte dieser flüchtige Blick über mein Gesicht.
„Weiß ich noch nicht genau. Wie steht’s bei Ihnen, Doktor?“ „Ich glaube schon“, antwortete er außerordentlich langsam. „Ich glaube eigentlich schon“, wiederholte er unglücklich.
„Erzählen Sie mir was von Hardiman!“ forderte ich ihn auf. „Alec“, begann er, „ist ein unerklärliches Phänomen. Er hatte ein sehr gutes Elternhaus, keine Anzeichen von Kindesmisshandlung oder Kindheitstrauma, keine frühzeitigen Hinweise auf eine psychische Störung. Soweit wir wissen, folterte er keine Tiere, ließ keine krankhaften Obsessionen
erkennen und war in keinerlei Weise verhaltensauffällig. Er war ein recht guter Schüler und ganz beliebt. Und dann, eines Tages…“ „Was?“
„Wir wissen es nicht. Als er so um die sechzehn Jahre war, fing das Ganze an. Mädchen aus der Nachbarschaft behaupteten, er hätte sich nackt vor ihnen gezeigt. Erwürgte Katzen hingen an Telefonmasten neben seinem Elternhaus. Gewalttätige Ausbrüche im Klassenzimmer. Und dann wieder nichts. Mit siebzehn nahm er wieder den Anschein absoluter Normalität an. Und wenn es den Streit mit Rugglestone nicht gegeben hätte, wer weiß, wie lang die beiden weitergemordet hätten.“
„Da muss doch was gewesen sein.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich arbeite jetzt seit ungefähr zwanzig Jahren mit ihm, Mr. Kenzie, und ich habe nichts gefunden. Selbst heute wirkt Alec Hardiman nach außen hin höflich, vernünftig und vollkommen harmlos.“
„Ist er aber nicht.“
Er lachte – ein plötzlicher, grober Laut in dem kleinen Zimmer. „Er ist der gefährlichste Mensch, den ich je gesehen habe.“ Dolquist nahm den Bleistifthalter von Liefs Schreibtisch, betrachtete ihn geistesabwesend und stellte ihn wieder zurück. „Seit drei Jahren ist Alec HIV-positiv.“ Er sah mich an, und einen Moment lang hielt er meinem Blick stand. „Sein Zustand hat sich in jüngster Zeit verschlechtert, die Krankheit ist voll ausgebrochen. Er stirbt bald, Mr. Kenzie.“
„Glauben Sie, er hat mich deshalb hergerufen? Geständnisse auf dem Totenbett, Reue in letzter Minute?“
Er schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht. Alec kennt keine Reue. Seit die Diagnose bei ihm gestellt wurde, wurde er von anderen Menschen ferngehalten. Aber ich glaube,
Alec wusste schon lange vor uns, dass er sich angesteckt hatte. In den zwei Monaten vor der Diagnose hat er mindestens zehn Männer vergewaltigt. Mindestens zehn. Ich bin der festen Überzeugung, dass er das nicht zur Befriedigung seiner sexuellen Begierde tat, sondern zur Befriedigung seiner Mordgelüste.“
Lief steckte den Kopf zur Tür herein. „Es ist soweit.“
Er reichte mir ein paar enge Segeltuchhandschuhe, Dolquist und er zogen ebenfalls welche an.
„Halten Sie die Hände von seinem Mund fern!“ mahnte Dolquist leise, den Blick auf den Boden gerichtet.
Dann verließen wir das Büro. Niemand sprach ein Wort auf dem langen Gang durch den seltsam stillen Zellenblock zu Alec Hardiman.
22
Alec Hardiman war einundvierzig Jahre alt, sah aber fünfzehn Jahre jünger aus. Das aschblonde Haar klebte ihm nass an der Stirn wie bei einem Grundschüler. Er trug eine kleine, rechteckige Brille, eine Opabrille, und als er sprach, war seine Stimme so leicht wie Luft. „Hi, Patrick“, grüsste er, als ich den Raum betrat. „ Schön, dass du kommen konntest.“
Er saß vor einem kleinen Metalltisch, der am Boden festgenietet war. Die schmalen Hände steckten in zwei Löchern im Tisch und waren, wie seine Füße auch, in Ketten gelegt. Als er zu mir hochsah, spiegelte sich Neonlicht weiß in den Brillengläsern. Ich nahm ihm gegenüber Platz. „Ich habe gehört, Sie können mir helfen, Insasse Hardiman.“
„Ach ja?“ Er lümmelte sich auf dem Stuhl und erweckte den Eindruck eines Menschen, der sich in seiner Umgebung vollkommen wohl fühlt. Die das Gesicht und den Hals bedeckenden Wunden wirkten frisch und roh, sie glänzten. Seine Pupillen schienen hell aus tief in den Schädel reichenden Höhlen hervorzutreten. „Ja. Ich habe gehört, Sie wollten reden.“
„Das stimmt“, erwiderte er, während Dolquist neben mir Platz nahm und Lief mit ausdruckslosem Blick seine
Position an der Wand einnahm, die Hand am Schlagstock. „Ich will schon seit langer Zeit mit dir sprechen, Patrick.“
„Mit mir? Warum?“
„Ich finde dich interessant.“ Er zuckte mit den Achseln.
„Sie haben den größten Teil meines Lebens im Gefängnis verbracht,
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