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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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seinem Kinn. „Ich war elf Jahre alt und hatte meinen ersten Orgasmus, damals in meiner Badehose, als tausend Hornissen mein Blut tranken.“
Lief runzelte die Stirn und lehnte sich wieder an die Wand. „Beim letzten Mal waren es Wespen“, stöhnte Dolquist.
„Es waren Hornissen.“
„Du hast >Wespen< gesagt, Alec.“
„Ich habe >Hornissen< gesagt“, wiederholte Alec nachsichtig und sah mich wieder an. „Bist du schon mal gestochen worden?“ Ich zuckte mit den Achseln. „Als Kind wahrscheinlich ein- oder zweimal. Weiß ich nicht mehr.“
Dann trat eine mehrere Minuten dauernde Stille ein. Alec Hardiman saß mir gegenüber und betrachtete mich, als überlege er, wie ich in Stücke geschnitten aussehen würde, angerichtet auf weißem Porzellan, daneben Messer und Gabel und eine Menage mit Pfeffer und Salz, Essig und Öl.
Ich hielt seinem Blick stand, mir war klar, dass er im Moment keine meiner Fragen beantworten würde.
Dann sprach er, doch sah ich die Lippenbewegung erst nach seiner Äußerung, in der Erinnerung.
„Könntest du mir die Brille hochschieben, Patrick?“
Ich warf Lief einen fragenden Blick zu, der zuckte mit den Schultern. Dann schob ich die Brille wieder vor Alecs Augen, und er drehte den Kopf so, dass er an dem kleinen Streifen nackter Haut zwischen meinem Hemdsärmel und dem Handschuh schnüffeln konnte.
Ich zog die Hand zurück.
„Hast du heute morgen Sex gehabt, Patrick?“
Ich antwortete nicht.
„Ich kann ihr Geschlecht an deiner Hand riechen.“
Lief löste sich ein wenig von der Wand, so dass ich seinen warnenden Gesichtsdausdruck erkennen konnte.
„Ich möchte, dass du eine Sache verstehst!“ erklärte Hardiman. „Ich möchte, dass du verstehst, dass man sich entscheiden muss. Man kann sich richtig oder falsch entscheiden, aber irgend etwas muss man wählen. Es können nicht alle leben, die du liebst.“
Ich versuchte, den Sand, den ich in der Kehle und auf der Zunge spürte, mit etwas Spucke zu verdünnen. „Diandra Warrens Sohn ist tot, weil sie dich hinter Gitter gebracht hat. Das hab ich verstanden. Was ist mit den anderen Opfern?“
Er summte, zuerst leise, so dass ich die Melodie nicht erkennen konnte. Dann jedoch senkte er den Kopf und hob die Stimme leicht an. Es war „Send in the Clowns“.
„Die anderen Opfer“, wiederholte ich. „Warum mussten sie sterben, Alec?“
„Isn’t it bliss?“ sang er.
„Du hast mich doch aus einem bestimmten Grund herbestellt.“ „Don’t you approve…“
„Warum mussten sie sterben, Alec?“ wiederholte ich.
„One who keeps tearing around…“ Er sang mit dünner, hoher Stimme. „One who can’t move…“
„Insasse Hardiman…“
„So send in the clowns…“
Ich sah erst Dolquist, dann Lief an.
Hardiman drohte mir mit dem Finger. „Don’t bother“, sang er, „they’re here.“
Dann lachte er. Er lachte laut, die Stimmbänder dröhnten, der Mund war weit aufgerissen, in den Mundwinkeln
bildete sich Schaum, die Augen, die auf mir verweilten, wurden noch weiter aufgerissen.
Dann schloss er den Mund abrupt, die Augen blickten wieder glasig, und er sah so freundlich und vernünftig aus wie ein Kleinstadtbibliothekar.
„Warum hast du mich gerufen, Alec?“
„Du hast ja deinen Wirbel gebändigt, Patrick.“
„Was?“
Er wandte sich Lief zu. „Patrick hatte früher einen hässlichen Wirbel am Hinterkopf. Die Haare standen bei ihm richtig ab.“
Ich widerstand dem Drang, mir mit der Hand an den Kopf zu fassen und die Haare um den Wirbel herunterzudrücken, der schon seit Jahren nicht mehr da war. Mein Magen fühlte sich plötzlich ganz kalt an.
„Warum sollte ich herkommen? Du hättest doch mit zig Polizisten, unzähligen Kommissaren reden können, aber…“
„Wenn ich behaupten würde, dass mir die Regierung das Blut vergiftet oder dass Alphawellen von anderen Galaxien meine Intelligenz beeinflussen oder dass ich von meiner Mutter zum Geschlechtsverkehr mit Tieren gezwungen wurde, was würdest du dazu sagen?“
„Ich wüsste nicht, was ich dazu sagen sollte.“
„Natürlich nicht. Weil du nichts weißt und nichts davon stimmt, aber selbst wenn es stimmen würde, wäre es eigentlich unwichtig. Was wäre, wenn ich dir erzählte, ich sei Gott?“
„Welcher denn?“
„Der einzig wahre.“
„Dann würde ich mich wundern, wie Gott das geschafft hat, sich im Knast einschließen zu lassen, und warum er seinen Arsch nicht einfach wieder herauszaubert.“
Er lächelte. „Sehr gut. Natürlich etwas grob ausgedrückt, aber

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