Absolut WILD 3

zu ähnlich«, sagte ich. »Aber wie wäre es mit Boris?«
    In diesem Moment gähnte der kleine Bärenjunge herzhaft. In seinem winzigen roten Mäulchen blitzten die ersten weißen Zahnspitzen auf.
    »Boris ist okay«, willigte Tori zu meiner Überraschung ein. »Der Name gefällt ihm.«
    Auf einmal wurde es im Bärenhaus dunkler, denn Ivana zwängte sich von draußen durch die Klappe und ließ sich schwerfällig auf ihr Strohbett plumpsen. Anna und Sasha waren im Nu bei ihr, krabbelten quiekend mit ihren kleinen Krallenfüßchen an ihrem Bauch hoch und begannen gierig an ihren Zitzen zu saugen.
    »Wo ist Boris?«, fragte ich beunruhigt.
    »Ich glaube, Ivana hat sich auf ihn gesetzt«, sagte Tori voller Panik.
    Wir rannten aus dem Bärenhaus.
    »Dr. Nik!«
    »Mama!«
    »Boris ist gerade zerquetscht worden!«, riefen wir beide gleichzeitig.
    Dr. Nik rannte dicht gefolgt von Mama und uns zurück ins Bärenhaus. »Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Ivana ihm etwas angetan hat …«, sagte er, als wir uns um das Beobachtungsfenster drängten, »aber er scheint nicht … Ah! Da ist er ja!«
    Boris’ pelziges Gesicht war gerade unter einem von Ivanas dicken Schenkeln aufgetaucht. Er öffnete sein Maul und jammerte kläglich.
    »Der arme Kleine!«, rief ich, entsetzt darüber, wie es sich anfühlen musste, wenn plötzlich gut zweihundert Kilo Bärenmama auf einem sitzen.
    Boris schüttelte benommen den Kopf. Dann arbeitete er sich langsam zu Ivanas Zitzen vor, aber seine Schwestern schubsten ihn mit ihren strampelnden Hinterbeinen weg. Grimmig versuchte Boris noch einmal, an die Zitzen zu gelangen, doch da drehte sich Ivana und nahm eine bequemere Position ein. Durch die ruckartige Bewegung verlor der kleine Bär den Halt und plumpste mit einem erschrockenen Schrei ins Stroh.
    »Er ist sehr schwach«, sagte Dr. Nik besorgt. »Es ist möglich, dass Ivana ihn gerade verletzt hat. Wir müssen das genau beobachten, Anita.«
    Mama und Dr. Nik blieben noch im Bärenhaus, während Tori und ich schon mal nach draußen in die Sonne gingen. Zwei Wild World -Besucher sahen sich Ivanas neues Schild an.
    »Europäischer Braunbär, Ursus arctos arctos «, las der eine vor. »Heißt das, der kommt aus der Arktis? Was meinst du?«
    »Ist nicht so wichtig, oder? Da ist eh keiner zu sehen«, sagte der andere mit einem flüchtigen Blick in das leere Gehege. »Und es ist nicht mal ein seltenes Tier.«
    Sie gingen weiter. Ich wollte ihnen schon entrüstet nachlaufen und ihnen erklären, dass arctos von dem griechischen Wort für »Bär« arktos kommt (ich hatte im Internet nachgeforscht) und dass Ivana genauso interessant und wichtig war wie das seltenste Tier im ganzen Safari-Park, aber Tori hielt mich davon ab.
    »Spar dir die Mühe, Taya«, sagte sie. »Manche Leute sehen nur, was sie sehen wollen.«
    »Dr. Nik isst mit uns zusammen zu Abend!«, rief Mama von der Tür des Bärenhauses. Sie klang sehr fröhlich. »Das ist doch nett, findet ihr nicht auch?«
    »Kann man denn was tun, wenn man Sachen sieht, die man nicht sehen will?«, raunte ich Tori zu, als Dr. Nik und Mama vor uns hergingen – ein bisschen zu dicht nebeneinander, als mir lieb war.
    »Nein, dagegen kann man auch nicht viel machen«, entgegnete Tori missmutig.

8
    Kein Typ zum Verlieben
    In den nächsten vier Tagen kam Dr. Nik drei Mal zum Abendessen zu uns.
    »Fehlt nur noch, dass er seinen eigenen Garderobenhaken bekommt«, murrte Tori am Sonntagabend, als Dr. Nik sich lächelnd von uns verabschiedete, Mama auf beide Wangen küsste und in der Dunkelheit verschwand. Mama war ein bisschen errötet und fing an, leise vor sich hinzusummen, während sie die Spülmaschine einräumte.
    »Sie haben hauptsächlich darüber geredet, ob Boris von Hand aufgezogen werden muss«, sagte ich. »Das war rein dienstlich und hatte nichts mit Romantik zu tun.«
    »Man muss auch zwischen den Zeilen lesen, Taya«, erwiderte Tori mit finsterer Miene.
    Mama und Dr. Nik hatten wirklich die meiste Zeit über das Bärenproblem gesprochen. Seit Ivana wach war, hatte sich leider bestätigt, dass sie äußerst reizbar war – und Boris hatte tatsächlich etwas abbekommen, als sie sich auf ihn gesetzt hatte. Aber wem wollte ich hier eigentlich etwas vormachen? Selbst mir war aufgefallen, dass Dr. Nik die Dinge allmählich in eine persönlichere Richtung lenkte.
    »Wir fahren doch morgen nach der Schule mit Papa nach Harting Park«, sagte ich zu Tori, als wir die Treppe zu unserem Zimmer hochgingen.