Absolut WILD 3
es keine Blutflecken abbekam.
»Du bist es doch, nicht wahr?«, sagte Joe, als wäre außer ihm und Lady Tempest niemand im Raum. »Ich habe dich zwar schon ziemlich lange nicht mehr gesehen, und als wir uns das letzte Mal getroffen haben, waren deine Haare anders, aber du bist es.«
Lady Tempest ließ die Hände sinken. Die protzigen Ringe, die zu ihrem Kostüm gehörten, glitzerten im Scheinwerferlicht. »Hallo, Joebaby«, sagte sie und brach in Tränen aus.
Natürlich wurden die Dreharbeiten für ein paar Minuten unterbrochen. Die Leute von der Filmcrew blieben trotzdem im Raum. Wie es aussah, konnten sie sich einfach nicht von der Szene losreißen, die ergreifender war als alles, was in Pavlov Valkyries Drehbuch stand.
»Nicht weinen, Mama«, sagte Joe und tätschelte der schluchzenden Lady Tempest die Hand. »Ist ja schon gut.«
Wenn man von den roten Flecken auf seinen Wangen absah, ging Joe eigentlich ganz wunderbar mit der Situation um. Ich hoffte für ihn, dass Lady Tempest – oder Kara Montaigne oder Mrs Morton oder wie auch immer sie nun hieß – endlich aufhörte zu heulen.
»Es war die Chance für mich, Baby«, sagte Mrs Morton mit erstickter Stimme. »Du weißt doch, dass ich immer Schauspielerin werden wollte? Nun, ich habe diesen Mann in London kennengelernt, der Leute für eine Hollywoodproduktion gecastet hat. Ich meine, Hollywood !«
»Ja«, sagte Joe. »Habe ich schon mal gehört.«
»Solche Gelegenheiten bieten sich einem nicht so oft – schon gar nicht, wenn man als Frau ein gewisses Alter erreicht hat.« Mrs Morton wischte sich die Augen. »Und dann ging plötzlich alles ganz schnell – ich konnte nicht mehr nach Hause kommen … Dein Vater hätte es niemals verstanden. Aber du verstehst es, Baby, nicht wahr?«
Joe nickte mit einer bewundernswerten Ruhe.
»Am Anfang war es ziemlich schwer für mich, aber jetzt habe ich es endlich zu etwas gebracht. Das hier ist eine große Rolle, Joebaby. Wer hätte gedacht, dass die kleine Kara Montaigne aus Fernleigh – ich habe meinen Namen geändert, weil Karen Morton so altbacken klingt – einmal in einem Film von Pavlov Valkyrie spielt!« Sie hörte kurz auf zu schluchzen, um voller Stolz in die Runde zu blicken.
Genau aufs Stichwort betrat Mr Valkyrie in diesem Moment den Raum. Die Leute von der Crew – Beleuchter, Kameramänner, Visagisten, Requisiteure, Garderobieren, Tontechniker und verschiedene Personen in schwarzen Rollkragenpullis – gingen in Deckung. Florence, die gar nicht mehr so fluffige Regieassistentin, begann so zu bibbern, dass die feinen Fasern an ihrem Mohairpullover vibrierten.
»Habt ihr Szene fertig?«, wollte der alte Adler wissen.
Mrs Morton entzog Joe ihre Hand. »Pavlov, Darling!«, sagte sie strahlend. »Stell dir vor, ich habe völlig überraschend meinen kleinen Jungen hier wiedergesehen, Joe. Ist das nicht wunderbar? Wir haben uns eine ganze Weile nicht gesehen, deshalb sind wir ein winziges bisschen in Verzug geraten. Ich bin in fünf Minuten bereit für den nächsten Take, Florence.«
Sie strich Joe zärtlich über die Wange, als wäre er derjenige gewesen, der sich bei dem großen Wiedersehen die Augen aus dem Kopf geheult hatte. »Wir werden uns später noch ausführlich unterhalten, Baby. Aber jetzt muss die Show weitergehen!«
Sie eilte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen, und wurde von Leuten mit Puderquasten und Haarbürsten umringt.
»Das war meine Mutter«, sagte Joe zu mir. »Nur falls du dich wunderst.«
»Deine Mutter ist Schauspielerin !«, sagte ich, völlig geplättet von dem, was ich gerade miterlebt hatte. »Und hat eine Rolle in diesem Film! Und du hattest keine Ahnung, dass sie hier ist, und bist mit uns hergekommen und peng! Plötzlich stand sie vor dir. Wie abgefahren ist das denn?«
»Ziemlich abgefahren«, pflichtete Joe mir bei und schluckte.
Ich starrte Lady Tempest gebannt an, die mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl saß, während Antonio mit Make-up-Schwämmchen und Pinseln die Tränenschlieren auf ihren Wangen verschwinden ließ. Jetzt konnte ich auch die Ähnlichkeit zwischen ihr und Joe sehen, obwohl es mir gar nicht so leichtfiel, sie mir ohne das viktorianische Kostüm und die Perücke vorzustellen.
»Sie sieht wunderschön aus, findest du nicht auch?«, sagte Joe.
»Sie sieht fantastisch aus«, entgegnete ich voller Begeisterung.
Und als wäre das alles nicht schon genug gewesen, gab es plötzlich ein lautes Gepolter, dann folgte ein Schmerzensschrei.
Weitere Kostenlose Bücher