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Absolution - Roman

Absolution - Roman

Titel: Absolution - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Die Fahne, die du unbedingt aus deinem Schlafzimmerfenster hängen lassen wolltest. Die Grußformeln. Das Singen der Hymne. Dein merkwürdiger Militarismus. Für uns war das eine Qual und ein Ärgernis. Und die winzigen Marschreihen deiner Buchstaben, so klein geschrieben, dass deine Lehrer sich beschwerten, deine Essays seien fast unleserlich und machten den Einsatz einer Lupe erforderlich. Und dann, zusammen mit deiner politischen Haltung veränderte sich plötzlich deine Handschrift, als du das erste Jahr an der Universität halb rum hattest, die seltsame Vermischung von Kursiv- und Druckschrift, deine eigene Erfindung, war schön, aber ungebärdig, orientierte sich nur ganz vage an einem Regelkonzept. Radikal und ungebärdig, wo du einst so konservativ gewesen warst. Du warst alt genug, um eine feste Meinung zu haben, zu erkennen, wenn du dich früher geirrt hattest, deine Ahnungslosigkeit zu begreifen und das Entsetzliche an dieser Unwissenheit zu erkennen.
    Selbst jetzt, wo so viel und nichts sich geändert hat, gibt es Schwierigkeiten. An deinem Fall, und ähnlichen Fällen, ist etwas, was deinen früheren Kollegen Gewissensbisse bereitet und sie verstört. Keiner will mir sagen, was oder warum. Zugegeben, ich habe mich nur in eingeschränktem Maß erkundigt, habe einigen wenigen diskrete Fragen gestellt, bei offiziellen Anlässen, wo sie nicht reden konnten, ohne Angst, belauscht zu werden, wo ich wirken musste wie eine mitleidheischende und verzweifelte alte Frau, die nach Rechtfertigung und Bestätigung hungert und nach einer Erklärung, warum dein Name nicht auf der Heldenliste steht. Ich kann nur vermuten. Vielleicht ist es die Kaltblütigkeit dessen, was du getan hast, die außerordentliche Entschlossenheit, mit der du deine Mission ausgeführt hast. Du warst eine Fanatikerin. Du hattest unschuldige Opfer, wenn einer von uns unschuldig oder Opfer genannt werden kann.
    Wem glauben wir? Es existieren Lücken in dem Archiv, das ich zusammengetragen habe, in dem Aktenschrank, der enthält, was von dir bleibt. Lücken klaffen zwischen deinem Bericht für mich in dem Brief, der mir in deinem Auftrag zugestellt wurde, deinem Bericht für dich selbst in den zehn Notizbüchern, die du mir vermacht hast, und den Berichten der früheren Regierung, den Mitteilungen in den Nachrichten, dem Zeugnis deiner früheren Kollegen und dem deiner Opfer. Es gibt da Zeitspannen, über die niemand etwas berichten kann, fehlende Verbindungen von Motivation und Ereignis und Entwicklung zwischen mehr oder weniger gesicherten Fakten, ohne die das Gerüst der Geschichte keinen Sinn ergeben würde, zusammenfallen würde, sich nicht entwickeln, keine einheitliche Struktur, kein Leben haben könnte. Ich muss diese Verbindungen schaffen, Fleisch auf die Tatsachen bringen, entscheiden, ob es sich um ein teuflisches Monster oder eine zehnarmige Göttin handelt.
    Ich rufe mir ins Gedächtnis, dass es diese andere Quelle gibt, noch nicht angezapft; wenn er die Gelegenheit bekäme, könnte Sam vielleicht eine recht andersgeartete Geschichte erzählen.
    Du hast beobachtet, wie er an einer Flasche mit braun aussehendem Wasser saugte, Licht fiel auf sein Haar, es war schmutzig, dunkel und unschön. Du konntest hören, wie seine Zunge am Gaumen klebte. »Hast du ein Stück Brot?«, fragte er. Du hast nicht geantwortet und versucht, dich nicht in eine Verantwortung hineinziehen zu lassen. Er wiederholte es. »In deiner Tasche? Hast du vielleicht noch einen Pfirsich? Oder einen Apfel?«
    »Nein. Ich habe Datteln.«
    »Kann ich welche haben?«, fragte er und bohrte mit dem Fuß im Boden.
    »Hast du nichts zu essen?«
    »Nicht so was wie du«, weinerlich, flehend, mit der Zehe ein Loch grabend, »so was nicht.«
    »Also nein. Du kannst nichts von meinem Obst kriegen. Ich habe eine lange Reise vor mir. Meine Verpflegung muss reichen.«
    Du warst in der Trostlosigkeit angekommen, in einer monochromen Welt, die leuchtenden Farben der Kindheit waren verschwunden, die scharlachroten Kleider verloren und verbrannt oder dem Dienstmädchen für ihre eigenen Kinder gegeben, die sie inzwischen an ihre eigenen Kinder weitergegeben haben mochten.
    (Hast du jemals scharlachrote Kleider gehabt? Habe ich dich jemals in ein Kleid gesteckt? Ich wende mich an die Fotoalben und suche nach einem Bild, meine kleine Rotkäppchen-Tochter, und ich finde dich nur in Grün oder Gelb, kein Rot, kein Kleid, höchstens ein Rock, eine strenge Bluse, Kaki und Weiß, Braun und

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