Absolution - Roman
erkennen, stammte von einer Hand, die nicht dem Diktat des Gehirns folgte.
»Legen Sie meinen Beamten etwas zur Last?«
»Nein, das kann ich nicht. Ich bin – mir nicht sicher. Ich kann nur sagen, dass jemand einen Fehler gemacht hat. Ich erinnere mich nicht daran, eine Beschreibung geliefert zu haben. Ich kann mich nicht erinnern, dieses Dokument unterschrieben zu haben. Nein, wenn ich noch einmal darüber nachdenke, bin ich sicher, dass ich nie eine amtliche Aussage gemacht habe. Ich wurde nie auf ein Polizeirevier gebracht – das steht zweifelsfrei fest. Ich bin nie aufgefordert worden, eine Aussage zu machen oder etwas zu bezeugen. Diese Krakel, die Unterschrift, das könnte alles Mögliche sein. Ich glaube nicht, dass es meine Unterschrift ist. Ich sage das mit Nachdruck.« Tatsächlich zweifelte Clare noch mehr an sich und schließlich versuchte die Frau nur, ihre Arbeit zu tun.
Ms White schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf, blickte besorgt drein, schniefte erneut. »Dann scheint es ein sehr schwerwiegendes Missverständnis zu geben. Weil hier ganz deutlich jemand, der sich für Sie ausgibt – ich kann Ihren Namen lesen – vier Männer beschuldigt hat, Männer zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren, mittelgroß und muskulös und von unbestimmter Rasse. Unbestimmte Rasse. Ist das ein Euphemismus, Madam?«
»Ich habe die Aussage nicht gemacht, wie kann ich wissen, ob sie als Euphemismus oder als Feststellung einer Tatsache gemeint war? Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen, Ms White.«
»Sie sollten sich vorsehen, Madam, weil sich offenbar jemand als Sie ausgibt. Oder aber Sie vergessen, wer Sie sind und wo Sie gewesen sind. Warum bloß, was glauben Sie? Warum sollte jemand bei uns eine Aussage an Ihrer statt machen, der nicht Sie ist, sich aber für Sie ausgibt? Das scheint doch eine sehr seltsame Situation. Ich glaube, Sie haben etwas vergessen. Ich glaube, Sie fühlen sich nicht wohl. Es gibt Orte, wo Kranke genesen können, wenn sie krank sind. Man könnte das arrangieren.«
»Ich bin nicht krank. Ich bin völlig gesund. Informieren Sie sich bei meinen Ärzten.«
Clare erkannte die Drohung: Zwangseinweisung ins Krankenhaus, Ruhigstellung, Elektroschocktherapie, dauerhafte Hospitalisierung – ein Angriff auf den Geist. Sie wusste, dass Sie sich vorsehen musste, doch es fiel ihr schwer, sich zu beherrschen.
»Wir werden der Sache auf den Grund gehen müssen, Madam. Aber ich versichere Ihnen, wir sind sehr gut in dem, was wir tun, und wir werden der Sache auf den Grund kommen, so oder so, ganz egal wie lange es dauert.« Ms White lächelte fast wohlwollend und erhob sich, das Ende der Befragung signalisierend. Sie verabschiedete sich nicht oder reichte die Hand, sondern klappte den Ordner zu und ließ ihn in ihre Tasche fallen. »Ich finde selbst hinaus.«
»Ich begleite Sie«, sagte Clare. »Gestatten Sie mir wenigstens diese Gefälligkeit.«
CLARE
Ist es ungerecht, dass ich deine Notizbücher und deinen letzten Brief für eine Last halte, die ich tragen muss? Es schmerzt mich, sie zu lesen, sie mit den amtlichen Berichten zu vergleichen, mit den Protokollen der Wahrheitsfindungskommission, den Presseausschnitten, den konkurrierenden Geschichtsdarstellungen und Aufarbeitungen der Vergangenheit, die ich in einer stetig wachsenden Dokumentensammlung angehäuft habe. Das alles wurde so lang nach den beschriebenen Ereignissen zusammengetragen. Ich akzeptiere allmählich, dass Entfernung nur verzerren kann. Ich lese eine Zeile in deiner Handschrift, vergleiche sie mit den anderen Dingen, die ich weiß, mit den Erinnerungen an dich, den Geburtstags- und Muttertagskarten, die du mir im Laufe der Jahre hast zukommen lassen, auch wenn ich weiß, dass es dir schwergefallen ist, mir irgendein Zeichen von Liebe zu geben. Ich kann nicht fortfahren. Eine einzige Seite zu lesen ist eine Gipfelbesteigung. Das Beschreiben eines Tages – eines deiner Tage, dein Bericht von einem einzigen Tag – ist eine Ozeanüberquerung. Ich hielt Sams Hand und er hatte einen so vertrauensvollen Ausdruck , lese ich und lege das Notizbuch hin, bevor ich die Tinte deiner Worte über die Seite fließen lasse. Warum besitze ich nicht mehr aus deiner Hand, Laura? Deine wilde Kinderhandschrift wurde in der Pubertät streng und kontrolliert, ganz wie deine politische Haltung, die eine Weile der unseren so konträr war, weitab von allem, was dein Vater oder ich richtig oder anständig oder einfach gut geheißen hätten.
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