Absolution - Roman
Reihe von Gesprächen führen, wenn Sie wollen«, teilt sie mir heute mit. »Damit will ich keine Endgültigkeit andeuten. Sie können zukünftig mit mir in Verbindung treten, wenn es nötig ist, aber solange Sie noch hier sind, warum sollten wir da nicht alles besprechen, was Sie vielleicht bisher zurückgehalten haben. Ich bin nicht so leicht beleidigt. Ich neige inzwischen zu der Auffassung, dass Sie Ihr Licht unter den Scheffel stellen. Sie sind klüger, als Sie den Anschein erwecken. Das ist sowohl ein bisschen rührend als auch entnervend. Warum holen Sie nicht während der letzten Tage Ihr Licht unter dem Scheffel hervor? Fragen Sie mich das nicht Fragbare. Lassen Sie die Wahrheit heraus.«
Ich muss den Impuls, laut zu lachen, unterdrücken. Diese Worte wirken so unwahrscheinlich, sogar absurd, nach allem, was sie früher geäußert hat, man denke nur an die ganze anfängliche Feindseligkeit, als sogar die einfachste Frage genau das zu sein schien: nicht fragbar . Ich denke – wie könnte ich auch anders? –, dass sie die Fragen, die ich zu stellen habe, worum es bei dem ganzen Vorhaben wirklich geht, schon erraten hat, vorausgesetzt, sie hat eine Vorstellung, wer ich bin. Es ist so, als erlaubte dir deine Mutter, jede denkbare persönliche Frage zu stellen, und dir fielen plötzlich eine Million Fragen ein, jede davon unmöglicher auszusprechen als die vorhergehende, selbst wenn dir die Erlaubnis dazu erteilt wurde.
Es ist wärmer geworden und wir nutzen das, um im Garten zu sitzen. Ich kehre zu einigen früheren Themen zurück, die Fragen der dichterischen Intention klären sollen, wogegen sie sich sträubt – »Sie vergiften mich«, beklagt sie sich –, und zu größeren thematischen Zusammenhängen, Einzelheiten über ihre Familie, ihre Kindheit, die Beziehung zu ihrer Schwester, die sie bereitwilliger diskutiert als bei unserer ersten Begegnung. Sie scheint tatsächlich aufzuleben, als ich ihre tote Schwester erwähne.
Nach drei Tagen dieser Art von Gesprächen verliert sie wieder die Geduld.
»Ihr Licht ist immer noch unter diesem Scheffel. Ich habe Sie herausgefordert, sich mir anzuschließen, doch Sie verstecken sich immer noch. Lassen Sie Ihr Licht leuchten! Ich lade Sie dazu ein. Hören Sie auf auszuweichen. Und ist nichts geheim, was nicht an den Tag kommen soll «, sagt sie und ich weiß, ich sollte das wiedererkennen – ein Zitat aus welchem ihrer Bücher? »Hören Sie, Sam«, sagt sie, mehr denn je wie eine Mutter, »Sie werden nicht erfahren, ob ich mich weigere, wenn Sie nicht fragen, und Sie kennen mich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass ich mich weigern werde , wenn ich nicht antworten möchte. Ich werde Ihnen keine Frage verübeln, die Sie mir stellen wollen. Deshalb sind Sie ja hier, Darling.«
Ich bilde mir das Darling nicht ein. Es überläuft mich. Marie unterbricht uns plötzlich mit einem Teller Kekse und einer Kanne Tee. Sie sagt nichts und verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist.
Ich versuche, meine Gedanken wieder zu ordnen, aber der beim Darling aufflackernde Mut ist verflogen. Natürlich habe ich zwei Fragen im Kopf: die fragbare und die weiterhin nicht fragbare. Deshalb entscheide ich mich für Erstere und weiß, dass ich es bereuen werde.
»Es gibt tatsächlich noch etwas.« Der Trick besteht darin, die Frage so zu formulieren, dass ich nichts vorspiegele und nicht so tue, als wüsste ich die Antwort schon, damit sie sich nicht verraten fühlt. Ich will sie nicht in die Enge treiben; ich möchte einfach sehen, wie sie antwortet. »Während der ersten Zusammenkünfte – ich kann mich jetzt nicht mehr erinnern, wann genau – haben wir über den Schreibprozess unter der Bedrohung durch Zensur gesprochen.«
Ihre Miene spricht eine deutliche Sprache. Sie denkt an etwas völlig anderes. Ich enttäusche sie wieder.
»Ja. Ich erinnere mich an dieses Gespräch.«
»Sie haben erwähnt, dass in einigen Fällen Schriftsteller als Gutachter für die Zensurbehörde gearbeitet haben.«
»Ja. Einige waren überzeugte Anhänger. Andere glaubten naiverweise, dass sie die Literatur aus dem Innern eines feindlichen Systems heraus verteidigen könnten.«
»Haben Sie einen von ihnen persönlich gekannt?«
»Ich kannte sie als Kollegen, ja, wie man Schriftstellerkollegen so kennt. Aber es waren keine engen Freunde darunter. Warum kommen Sie nicht zur Sache?«
»Als bekannt wurde, dass ich an Ihrer Biografie arbeite, haben mir viele Leute geschrieben und Anekdoten
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