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Absolution - Roman

Absolution - Roman

Titel: Absolution - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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einer ihn abholen.

CLARE
    Du bist den Rest des Tages und bis in die Nacht hinein gefahren, dann hast du, eine Fußstunde vor der Grenze, den Lkw stehen gelassen und bist deinem Kompass zu einem Ort gefolgt, wo du gehofft hast, unbemerkt aus dem Land herauskommen zu können.
    Die Berge waren trocken und die verkrüppelten Bäume alt und dicht beieinander. Als du dort entlangliefst, sammelten sich Nebelschwaden in den Senken und zogen durch das niedrige Geäst. Ein leichter Wind wehte von Südwest, aber der Himmel über dir war klar und es würde noch ein paar Stunden lang hell sein. Wenn du das Tempo beibehieltest, würdest du die Grenze weit vor Tagesanbruch erreichen.
    Während des Marsches begannen sich deine Gedanken dem Tod anderer Menschen und deinem eigenen unausweichlichen Tod und der Abwesenheit von Sam zuzuwenden – einer Abwesenheit, die du durch das Gewicht des Rucksacks auf deinem Rücken spürtest, dessen rotes Vinylgeflecht dich drückte und aufrieb. Der Gedanke an den Tod von Menschen, den du verursacht hattest – für den du allein verantwortlich warst –, erfüllte dein ganzes Ich, wurde durch ein Lied, das durch dein Gedächtnis pulsierte, zur vollen Entfaltung gebracht. Du warst tief in dir versunken, der Tod erfüllte dich bis über den Punkt der Zufriedenheit hinaus, erfüllte sie wie Fülle , versüßt durch den Gedanken an deinen eigenen Tod, den Tod, der kommen musste, der innerhalb der nächsten Stunde oder des nächsten Tages kommen konnte.
    Deine Sandalen stießen gegen den ersten Stacheldrahtverhau, bevor du ihn gesehen hattest, aber du konntest noch rechtzeitig zurückweichen, um dir nicht die Hände zu verletzen. Du nahmst den Rucksack ab und stelltest ihn auf den Boden und lauschtest dabei, ob etwas zu hören sei. Bis auf den Grund der roten Vinylhülle tauchend, fandest du eine Drahtschere und dicke Lederhandschuhe, nahmst den Rucksack wieder auf und fingst an, den Drahtverhau durchzuschneiden, bis du die beiden Enden auseinanderziehen und durchschlüpfen konntest. Dicken Draht durchzuschneiden hattest du trainiert und deine Handmuskeln waren kräftig und gehorchten dir. Du wusstest, dass es mehrere Drahtverhaue geben konnte, die jeweils durch einen baumlosen Landstreifen voneinander getrennt waren. Auf der anderen Seite hieltest du inne, drehtest die Ohren in den Wind, schütztest sie mit den Händen und lauschtest in dem Vakuum. Da war kein Laut abgesehen vom Wind. Beim Vorwärtsgehen versuchtest du, dich in gerader Linie vom ersten Drahtverhau fortzubewegen, aber du hattest keine Ahnung, wie weit die Drahtverhaue auseinander sein könnten. Dein Herz fing an zu rasen, als dir das Geräusch deiner Schritte und deines Pulses im Kopf dröhnte. Der Nebel war so dick, dass du nur auf Armlänge sehen konntest, und deine Lunge füllte sich mit der feuchten Luft. Nach fünf Minuten traf dein Fuß auf einen weiteren Drahtverhau. Auch den schnittest du durch, einen Durchschlupf schaffend, und gingst weiter. Fünf Minuten später wieder ein Drahtverhau und dann wieder einer. Du machtest dir Sorgen, dass du dich gedreht haben könntest, dass du parallel zur Grenze statt hindurch gingst – dass es rechtwinklige Abschnitte beim Drahtverhau geben könnte, die eben den Zweck hatten, potenzielle Grenzgänger zu verwirren. Dir fiel dein Kompass ein. Seine grün leuchtende Skala bestätigte dir, dass du dich immer noch auf die Freiheit zubewegtest. Nach weiteren zwei Drahtverhauen fingst du an, die Hoffnung zu verlieren, und sankst erschöpft auf die Knie, mit laut klopfendem Herzen und unregelmäßigem Atem, mit dem feuchten Rucksack kämpfend. Nur der Boden unmittelbar um dich herum war zu sehen. Deine Uhr sagte dir, es war erst zwei, aber dem Gefühl nach war es viel später. Es gebe Orte, wo Uhren nicht funktionieren, behaupten einige.
    Als du dich aufzurichten versuchtest, gelang es dir nicht und du musstest kriechen. Wenn die Sonne aufgeht, werde ich zumindest sehen, wo ich mich befinde, dachtest du. Du krochst eine Stunde lang, immer nach Südsüdost, kamst aber an keine weiteren Drahtverhaue. Dein Mund war trocken, die Gelenke schmerzten. Schließlich gelang es dir, dich aufzurichten, und als du es tatst, explodierten rechts von dir Lichter. Ein Mann brüllte. Ein Hund bellte.
    Und dann waren der Mann und der Hund bei dir.
    Du konntest dich nicht erinnern, wie viele Tage vergangen waren; vielleicht fünf, vielleicht sogar fünfzehnhundert. Dir war jegliches Hilfsmittel zur Messung der

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