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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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sogar geöffnet.«
    Die junge Frau schlüpfte in das braune Kleid aus Wollstoff, das sie noch kein einziges Mal getragen hatte. Der Mann tauschte den Trainingsanzug gegen Terylenhosen und ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln. Er zog einen runden Spiegel aus seiner Reisetasche, stellte ihn mitten auf den Tisch und kämmte sich lang und sorgfältig die spröden, schweren Haare.
    Der Speisewagen war voll. Per Ellenbogentaktik versuchten die Reisenden, einen Platz zu ergattern. Der Mann bahnte sich dreist den Weg zu einem weiß gedeckten Tisch, an dem ein bärbeißiges Ehepaar gerade seine Mahlzeit beendete. Der Mann hatte einen gepflegten Viereckschnurrbart, bei der Frau spross der Schnurrbart ungebändigt. Auf jedem Tisch standen kurzstielige rosa Plastiknelken in Kristallvasen. Der Mann und das Ehepaar nahmen ein seltsames, sprunghaftes Gespräch auf, unter das sie Wörter mischten wie: Petrowka … Schipok … Samoskworetschje … Warwarka … Soljanoi Dwor … Trubnaja … Kusnezki Most.
    Die junge Frau verschloss das Gehör vor dem Lärm, maß mit dem Blick die breiten Fenster ab und dachte an eine Seenlandschaft an einem Sommermorgen, bis eine müde Bedienung geschäftig an den Tisch kam.
    »Wären Sie so freundlich und würden dem Fräulein ein Senator-Bier und mir eine Flasche Wodka bringen und dazu ein Tellerchen Wobla?«
    »Es gibt keinen Wodka«, sagte die Bedienung säuerlich.
    »Warum nicht?«
    »Alkoholverbot.«
    »Es gibt keine Regel ohne Ausnahme«, sagte der Mann zuversichtlich.
    »Es gibt keinen Wodka. Ist das so schwer zu verstehen, verehrter Genosse?«, sagte die Bedienung unwillig.
    »Dann bring mir eine Flasche Kognak. Das geht auch.«
    Nachdem er den kleinen Teller mit den Fischen und seinen Kognak bekommen hatte, nahm der Mann einen ordentlichen Schluck, zog eine Grimasse und biss ein Stück getrockneten Wobla ab.
    »Jetzt bin ich so weit, dass ich etwas zum Essen bestellen kann.«
    Die Bedienung sah ihn weiterhin überdrüssig an.
    »Als Vorspeise Soljanka. Als Hauptspeise fünfzehn Blinis, Schaschlik, gekochte Teewürste, Salat und eine Flasche Kognak.«
    Statt eines Schaschliks bekamen sie trockene Hühnerschenkel, statt des Salats in Margarine gebratene Kartoffeln. Der Mann goss sich Kognak ins Glas und erklärte, Breschnew habe seinerzeit betont, zweihundertfünfzig Gramm Wodka auf einen Schluck sei das richtige Maß für den russischen Mann.
    Die junge Frau warf einen Blick auf die schnurrbärtige Frau und hörte kurz zu, was deren viereckschnurrbärtiger Mann zu sagen hatte.
    »Für mich hat der Krieg nur fünf Jahre gedauert, und damals wusste jeder, wohin er zielen musste, aber unsere Ehe dauert nun schon achtundzwanzig Jahre, und ich weiß immer noch nicht genau, aus welcher Richtung der Angriff kommt …«
    Die junge Frau tröstete sich selbst. Woran man sich nicht erinnert, das hört auf zu existieren. Vielleicht hat es gar nicht existiert.
    Der Mann füllte das Glas des Viereckschnauzers und schlug ihm auf den Rücken. Dann sagte er zu der jungen Frau, es sei Zeit, wieder ins Abteil zu gehen. Die angebrochene Kognakflasche nahm er mit.
    »Ich kann zwar ohne Grund saufen, aber ich trinke nie allein. Wir Russen bechern immer in Gesellschaft. So macht es mehr Spaß. Der Mann leidet und darum trinkt er, so wie ich jetzt.«
    Er packte die Fuselflasche, die ihm die junge Frau mitgebracht hatte, aus und stellte sie mitten auf den Tisch. Lange starrte er die Flasche mit betrübter Miene an.
    »Und du, mein Mädchen, zwingst mich, alleine zu trinken.«
    Er wischte über die Flasche, platzierte sie neben der halb leeren Kognakflasche und sah die junge Frau mit schlaffer Neugier an.
    »Von 1961 bis 1964 lebte ich komplett ohne Geld. Ich hatte keine einzige Kopeke, und trotzdem lebte ich. Hier bei uns ist das möglich. Man kann Graswurzeln auslutschen oder Schnecken von den Blättern pflücken, und Wodka treibt man immer auf. Jeder Schweinerüssel findet seine Unratschüssel, wie man bei uns sagt. Im Winter ist es schwieriger. Aber man kann Zapfen lutschen und Rinde nagen. Der Wodka hat den Vorteil, dass er nicht gefriert, auch wenn es noch so kalt ist.«
    Er füllte sein Glas und gurgelte, aß rasch ein Stück grüne Zwiebel und brummte dann vor sich hin, wobei er unwillig zu der jungen Frau hinüberschaute und eine amüsierte Miene aufsetzte.
    »Sind alle finnischen Frauen so trocken und kalt wie du? Die russischen Nutten fangen sofort an zu furzen, wenn man sie gebumst hat. So eine bist du

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