Acacia 01 - Macht und Verrat
ich irgendwelche mythischen, verrückten Magier aufsuche.«
»Die Santoth sind vielleicht ebenso wirklich wie du und ich.«
Aliver richtete den Blick fest auf den alten Mann. »Ach ja? Hast du schon mal einen getroffen? Hast du selbst schon Wunder gewirkt, oder warst du Zeuge, wie jemand Magie ausgeübt hat?«
»Es gibt Dokumente«, erwiderte Thaddeus und hob die Stimme, um Alivers Einwand zu übertönen. »Es gibt Dokumente – von denen du nichts weißt -, die das Wirken der Santoth genauestens belegen.«
»Mythen!« Aliver spie das Wort aus, als wäre es ein Fluch.
»Der Mythos lebt, Aliver! Er lässt sich ebenso wenig leugnen wie die Sonne oder der Mond. Siehst du im Moment etwa den Mond? Nein, aber du glaubst fest daran, dass er wieder aufgehen wird. Dein Vater sagt, dass die Santoth erneut über die Bekannte Welt wandeln werden. Sie können uns helfen, die Macht zu erlangen, wie sie es schon einmal getan haben. Die einzige Voraussetzung dafür ist, dass du – ein Akaran-Prinz, dem es bestimmt ist, König zu werden – sie aus der Verbannung holst. Das ist einer der Gründe, weshalb du nach Talay gebracht wurdest, denn von hier aus ist es nicht mehr weit bis zur Heimat der Santoth. Du solltest das Land kennen lernen und dir die notwendigen Fertigkeiten aneignen, um sie aufzuspüren. Dein Bruder und deine Schwester Mena wurden ebenfalls in Sicherheit gebracht, wenngleich das nicht so verlaufen ist, wie wir es uns vorgestellt haben. Ich werde dir alles erzählen, Aliver. Du sollst alles erfahren. Alles. Ich werde dir auch berichten, was es über Hanish Mein Neues gibt. Er hat etwas mit seinen Ahnen vor, den Tunishni. Das ist auch etwas, das man als reinen Mythos abtun könnte, und doch sind sie der Ursprung von Hanishs Macht …«
»Du hast in der Mehrzahl gesprochen. Wen meinst du mit ›wir‹?«
»Viele Menschen warten auf deine Rückkehr. Man könnte auch sagen, die ganze Welt wartet auf dich. Es gibt bestimmte Gründe, weshalb du allein …«
»Warum sollte ich mich um die Welt scheren und dir auch nur ein Wort glauben? Ich habe ein neues Leben gefunden, bei ehrlichen, aufrichtigen Menschen.«
Thaddeus verspürte ein Pochen im Hals. Am liebsten hätte er die Hand auf die Stelle gelegt, doch er beherrschte sich. »Früher hast du mich Onkel genannt. Du hast mich geliebt. Das hast du mit deinem Kindermund gesagt, und ich habe deine Liebe erwidert. Ich bin noch immer dieser Mann. Und ich weiß, dass dir das Schicksal der Welt nicht gleichgültig ist. Du hast immer Anteil daran genommen. Nichts kann dir das austreiben. Aliver, das ist es, was dein Vater beabsichtigt hat. Alles, was du hier gelernt hast … Das, was aus dir geworden ist …« Alivers undurchdringliche, unergründliche Miene ließ Thaddeus innehalten. »Ich sehe, du willst mir ein Rätsel sein, aber das bist du nicht.« Mit größerer Selbstgewissheit als zuvor wiederholte er: »Das bist du nicht.«
»Du sagst, ich kann mich frei entscheiden?«
»Ja.«
»Dann hast du mir bereits Halbwahrheiten gesagt. Du weißt genau, dass ich keine Wahl habe. Und du hast auch nicht gestanden, dass du meinen Vater verraten hast. Wärst du aufrichtig, hättest du das als Erstes getan. Ja, ich weiß Bescheid. Warum auch nicht? Die ganze Welt weiß von Thaddeus Cleggs Verrat. Hanish Mein hat es selbst verkündet, und ich habe bereits davon erfahren, als ich noch mit der Karawane zu diesem Dorf unterwegs war. Die Männer haben sich darüber unterhalten, ob du ein Schuft oder nur ein Narr bist. Ich habe mich nicht eingemischt, aber ich kenne die Wahrheit: Du bist beides. Dass du ihm die Klinge nicht selbst in die Brust gestoßen hast, ändert nichts daran. Wärst du ein aufrichtiger Diener meines Vaters, würdest du mich auf Knien um Vergebung bitten.«
Der Prinz erhob sich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung. Er hatte nichts mehr zu sagen. Er wandte sich zum Gehen. Energisch hob er einen Fuß und setzte ihn vor. Darauf war Thaddeus nicht gefasst gewesen. Dies hatte er nicht geplant, hatte sich nicht ausgemalt, dass Aliver sagen würde, was er gerade gesagt hatte, oder dass er so darauf reagieren würde, wie er es gleich darauf tat.
Er warf sich aus der sitzenden Haltung nach vorn und klammerte sich an Alivers Bein fest. Mit der anderen Hand schob er sich vor, bis er beide Arme um Alivers Beine schlingen konnte. Das entsprach ganz und gar nicht seiner Absicht, doch er ließ nicht los. Er klammerte sich fest und erwartete zu fühlen, wie die Fäuste
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