Acacia 01 - Macht und Verrat
Frauen gemacht hatte, die ihn liebten. Sie nahm sich ihre Kinder. Sie stürzte aus dem Himmel herab, packte die Kleinen nacheinander mit den Krallen und schlug mit den Flügeln, bis sie sich wieder in die Lüfte emporgeschwungen hatte. Die Kinder schrien und krümmten sich hilflos in ihrem unerbittlichen Griff.
Als die junge Priesterin an der Statue vorbeischritt, fiel ihr Blick auf die beschädigte Stelle. Obwohl sie es hätte besser wissen müssen, bedauerte sie es, Vaharinda nicht in voller Pracht gesehen zu haben. Sie träumte sogar davon, sich wie so viele Frauen vor ihr auf seinen Schoß zu setzen. In ihren Träumen allerdings war er nicht aus Stein. Er war aus Fleisch und Blut, und was sie miteinander taten, versetzte sie in einen solchen Sinnestaumel, dass sie beim Aufwachen bisweilen über ihre eigenen Phantasien staunte. Schließlich war sie Jungfrau. Das brachte ihre Stellung mit sich. Sie war Teil dieses fortdauernden Dramas. Vor langer Zeit hatten die Priester verkündet, die einzige Möglichkeit, Maeben zu beschwichtigen, bestehe darin, ein lebendiges Symbol auszuwählen, das die Menschen Tag für Tag an sie erinnere. Die Priester meinten, die Menschen dürften nicht zu großen Genuss am Leben finden. Sie müssten sich vergegenwärtigen, dass sie ihr Leben und ihren Wohlstand allein Maebens Großzügigkeit verdankten. Wenn sie bei guter Gesundheit waren, sollten sie bedenken, dass sie jederzeit von einer Krankheit befallen werden konnten. Wenn sie sich am schönen Wetter erfreuten, sollten sie an die Herbststürme denken, die schwere Verwüstungen anrichteten und den Menschen großen Kummer bereiteten. All diese Widrigkeiten seien notwendig, um die Göttin zu besänftigen, deren eifersüchtigem Blick nichts entgehe, was sich auf Erden zutrage. Und die Priesterin dürfe vor allem niemals dem Verlangen nachgeben, das Maeben für Vaharinda empfunden habe.
Vielleicht war diese Bußfertigkeit ja der Grund, weshalb auf den Vumu-Inseln ein Überfluss herrschte, der deren Bewohner in ihrem Glauben bestärkte. In den geschützten Buchten sammelten sie Muscheln. Mannslange Welse wimmelten in den schlammigen Flüssen, die aus den Hügeln herabströmten, und durchpflügten das Wasser so dicht an der Oberfläche, dass die Fischer sie von ihren Kanus aus mühelos mit Speeren erlegen konnten. Im Frühjahr füllten Thunfische die Netze bis zum Bersten. Im Spätsommer bogen sich die Bäume in den Tälern unter der Last der Früchte. Und schon acht- oder neunjährige Jungen erachtete man für alt genug, um sie in den Hügeln jagen zu lassen. Wenn sie zurückkehrten, brachten sie Affenfleisch mit, Eichhörnchen und einen fluguntüchtigen Vogel, der so dick war, dass sie Mühe hatten, ihn sich unter den Arm zu klemmen. Es gab vieles, was Maeben ihnen hätte neiden können, und die Bewohner von Vumu hatten viel, wofür sie dankbar sein mussten.
»Priesterin!«, rief jemand sie vom Kopf der Tempeltreppe aus an. »Beeil dich, du trödelst zu viel.« Es war Vandi, der Priester, dessen Aufgabe es war, sie für die Zeremonie anzukleiden. Er wirkte verärgert, doch in Wahrheit war er umgänglich wie ein Onkel, der in eine Nichte vernarrt ist, auf die er nur beschränkten Einfluss hat. Er hielt ihr das Untergewand hin, als wäre sie schon nahe genug, um hineinschlüpfen zu können.
Die junge Frau nahm zwei oder drei Steinstufen auf einmal. Die Stufen waren flach, auf dass man sich dem Tempel mit langsamen, gemessenen, ehrfürchtigen Schritten nähere. Dies galt freilich nur für die Gläubigen, nicht für die Person, die sie verehrten. »Immer mit der Ruhe, Vandi«, sagte sie. »Vergiss nicht, wer hier wem dient.«
Vandi war wie die meisten Vumu kleinwüchsig, hatte nachtschwarzes Haar, grünliche Augen und einen Schmollmund. Er war Priester und hielt sich häufig im Tempel auf, weshalb seine Haut einen etwas helleren Kupferton hatte als die der meisten Inselbewohner. »Wir dienen alle der Gottheit«, spöttelte er.
Sie schlüpfte in das Gewand und ließ sich von ihm ins Tempelinnere führen. Im Halbdunkel ihrer vom Duft des Räucherwerks erfüllten Gemächer wurde sie von den Tempeldienern angekleidet. Sie legten ihr die verschiedenen gefiederten Schichten des Obergewands an und schnürten es geschickt. Andere bemalten ihr das Gesicht, befestigten die Maske über dem Mund und vergewisserten sich, dass sie noch Luft bekam. Währenddessen wurde sie von den Duftmeistern umringt, die sich aus kunstvoll verzierten Kürbissen den
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