Acacia 01 - Macht und Verrat
Mund füllten und das Duftwasser als feinen Sprühregen auf sie niedergehen ließen, eine Fertigkeit, die jahrelange Übung erforderte. Man schob ihr Krallen über die Finger und befestigte sie mit Lederriemen an Hand und Gelenk. An jeder Hand hatte sie drei Krallen; je zwei Finger und der Daumen trugen das Gewicht der gebogenen Sicheln. Die furchterregenden Klauen stammten von einem echten Seeadler, der fast ebenso groß gewesen sein musste wie die Göttin.
Die junge Frau ließ die Prozedur mit seitlich abgestreckten Armen reglos über sich ergehen. Sie dachte daran, dass vor langer Zeit ihr Vater beim Ankleiden bisweilen die gleiche Haltung eingenommen hatte. Vielleicht, dachte sie, hatte sie sich gar nicht so weit von ihrem Ursprung entfernt, wie sie manchmal glaubte. Bevor sie Priesterin geworden war, hatte sie auf den Namen Mena gehört. Jetzt war sie Maeben. Gar kein so großer Unterschied. Bisweilen erinnerte sie sich an ihre Familie mit einer verblüffenden Klarheit, doch die meiste Zeit über wirkte sie so fern wie gerahmte Porträts, die an der Wand eines längst vergessenen Raumes hingen. Sogar sich selbst sah sie auf diese Weise. Prinzessin Mena, zu prächtig gekleidet, mit einem juwelenbesetzten Anhänger um den Hals und kostbaren Nadeln im Haar. Sie erinnerte sich noch gut an ihre Geschwister, doch sie waren in unterschiedlichen Posen erstarrt: der ernste Aliver, der so besorgt um seine Stellung in der Welt war, der gutmütige Dariel, unschuldig und leicht zu erfreuen. Corinn konnte sie sich nicht mehr ganz vergegenwärtigen. Das bedrückte sie. Obwohl ihre Schwester ihr am nächsten gestanden hatte, fiel es ihr schwer, ihr Wesen zu erfassen. Doch das war alles nicht mehr wichtig. Ob es ihr gefiel oder nicht, es war Vergangenheit. Jetzt lebte sie ein ganz anderes Leben.
Als sie vor Jahren eines Morgens aus dem Schlaf erwacht war, hatte sie, noch ehe sie die Augen aufschlug, gewusst, dass sie sich in einem kleinen, schwankenden Boot befand. Sie blickte zum grenzenlosen weiß-blauen Himmel auf. Wenn sie den Kopf hob, sah sie die weißen Schaumkronen des offenen Meeres, die sie seit Tagen umgaben, doch zum ersten Mal empfand sie bei ihrem Anblick eher Überdruss als Angst. Sie setzte sich auf. Ihr Beschützer war ein schweigsamer Mann. Er vermied es, sie anzusehen, und starrte mit seinen dunklen Augen entweder den Horizont oder das sich blähende Segel an, oder er betrachtete die Meereswogen.
Sie hingegen hatte keine Hemmungen, freimütig sein hageres Gesicht zu mustern und ihm dabei zuzusehen, wie er das Segel geschickt bediente, obwohl ihm an der linken Hand zwei Finger fehlten. Er setzte die Hand ohne Zögern ein, jedoch mit eigentümlich eckigen Bewegungen, die ihren Blick einfingen und festhielten. In Acacia hatte sie kaum jemals körperliche Entstellungen zu Gesicht bekommen. Bei den Dienstboten gewiss nicht, und die Würdenträger, die den Palast aufsuchten, hatten ihre Gebrechen vermutlich versteckt. Der Beschützer war nicht so groß, wie sie zunächst gemeint hatte, aber vielleicht ging ihr allmählich auch der Maßstab verloren, denn er war der einzige Mensch weit und breit, und ihr kleines Boot war von der unermesslichen Weite des Meeres umgeben. Doch ganz gleich, ob groß oder klein, jedenfalls war er Soldat. Er trug ein Kurzschwert an der Hüfte. Das Heft seines Langschwerts ragte ein Stück weit aus einem Staufach hervor. Fast sah es so aus, als habe er es verstecken wollen.
Zum hundertsten Mal musste sie über die Absurdität des Ganzen den Kopf schütteln. Sie glaubte ihm zwar, dass der Fluchtplan auf ihren Vater zurückging, doch deswegen kam er ihr kein bisschen vernünftiger vor. Als sie auf Kidnaban die Zimmertür geöffnet hatte, war er vor ihr gestanden. Sie hatte ihm vertraut, als sie auf zwei Ponys über die Küstenstraßen geritten waren. Im Wald hatte er ihr mit einem Schermesser das Haar geschoren. Er hatte ihr grobe Kleidung gegeben und ihr erklärt, wenn sie aufgehalten würden, sollte sie sich als Junge ausgeben, den man ihm zur Begleichung einer Familienschuld überlassen habe. Allerdings wurden sie von niemandem zur Rede gestellt.
Sie segelten von Hafen zu Hafen, kauften Schiffspassagen, wann und wo sie konnten, und erst in Bocoum erstand der Mann ein kleines Segelboot. Er feilschte fast eine Stunde lang, während sie gebannt der Unterhaltung folgte. Mehrmals erkundigte sie sich, weshalb sie auf diese Weise reisten, doch anstatt zu antworten, verwies er sie auf den
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