Acacia 01 - Macht und Verrat
Bestie zu tun hatte, setzte irgendetwas in ihm frei. Er hatte sich von dem Tier hetzen lassen, bis es völlig erschöpft gewesen war, dann hatte er kehrtgemacht und war ihm so nahe gekommen, dass er seinen widerlichen Atem riechen konnte. Er hatte das Ungetüm angesehen … und getan, was man von ihm erwartete. Er hatte ihm den Speer tief in die Brust gerammt und ihn festgehalten, während der Laryx sich mit letzter Kraft sträubte und um sich schlug. Er wusste nicht genau, wie es geschehen war, doch er hatte gewusst, dass seine Tat irgendetwas in ihm zum Besseren gewandelt hatte.
Kelis drängte voran. Mittags legten sie keine Pause ein, sondern rannten in der sengenden Hitze weiter. Laryx konnten zwar stundenlang rennen, taten es aber nur, wenn sie wirklich gereizt wurden. Sie schüttelten das Rudel ab, als es von Warzenschweinen abgelenkt wurde, die eine leichtere Beute darstellten. Zur Sicherheit liefen die beiden Männer bis weit nach Einbruch der Dunkelheit weiter.
Am fünften Tag durchquerten sie eine Salzebene und trafen auf eine Massenwanderung rosafarbener Vögel. Zu Abertausenden marschierten sie übers Land, ein gewaltiger Schwarm, der in der Sonne flirrte, langhalsige Vögel mit langen, schwarzen Beinen, die sie anmutig aufsetzten. Aliver hatte keine Ahnung, weshalb sie nicht flogen. Sie teilten sich lediglich, als die beiden Läufer durch den Schwarm eilten, und blickten ihnen stumm aus den Augenwinkeln nach.
Am Vormittag des sechsten Tages gelangten sie zu dem großen Fluss, der das Regenwasser der Westhügel aufnahm. Das flache Flussbett war über eine Meile breit. In der Regenzeit stellte es ein ernsthaftes Hindernis dar. Auch jetzt kennzeichnete es die Südgrenze des bewohnten Talay. Der Fluss war nurmehr ein Rinnsal, eine knöcheltiefe Wasserader von ein paar Schritten Breite. Die beiden Männer standen in der Strömung. Es war ein angenehmes Gefühl, die glatten Kiesel unter den Fußsohlen zu spüren. Hätte sich nicht ausgebleichtes, ausgedörrtes Land mit spärlicher Vegetation bis zum Horizont erstreckt, hätte Aliver die Augen geschlossen und zugelassen, dass die Kiesel und das Wasser Erinnerungen an einen anderen Ort und eine andere Zeit heraufbeschworen.
»Bruder«, sagte Kelis, »ich gehe nicht weiter als bis hier.«
Aliver wandte sich dem Talayen zu, der gerade eine Kürbisschale voll Wasser schöpfte und an die Lippen führte. »Was?«
»Mein Volk überquert diesen Fluss nicht. Der Schöpfer wird dich von hier an leiten. Er ist ein besserer Gefährte als ich.«
Aliver starrte ihn verständnislos an.
»Ich werde auf dich warten«, sagte Kelis. »Glaub mir, Aliver, wenn du hierher zurückkehrst, werde ich da sein.«
Aliver war dermaßen verblüfft, dass er keine Einwände erhob. Kelis schärfte ihm eine Reihe von Dingen ein, die er tun und die er unterlassen sollte, ermahnte ihn, sparsam mit dem Wasservorrat umzugehen, erklärte ihm, wo flüssigkeitshaltige Wurzeln zu finden wären, und wies ihn darauf hin, dass er notfalls auf das Blut von Tieren zurückgreifen könne. Aliver wusste das alles bereits, tat jedoch so, als hörte er ihm zu, da er den Moment des Abschieds hinauszögern wollte.
»Sangae hat mir eine Botschaft für dich aufgetragen«, sagte Kelis, als er Aliver half, sich den Tragsack auf den Rücken zu binden. »Er hat gesagt, du wärst für ihn wie ein Sohn. Und du wärst der Sohn Leodan Akarans. Und der Prinz der ganzen Welt. Er hat gesagt, er weiß genau, dass du alle Herausforderungen mutig bestehen wirst. Und wenn man dir die Krone Acacias aufsetzt, hofft er, du lässt ihn einer der Ersten sein, die sich vor dir verneigen.«
»Sangae braucht sich nicht vor mir zu verneigen.«
»Vielleicht brauchst du es nicht, dass er sich vor dir verneigt, er aber schon. Respekt kennt zwei Richtungen und bedeutet dem, der ihn entbietet, manchmal ebenso viel wie dem, der ihn empfängt. Geh jetzt. Bis Sonnenuntergang liegt noch ein weiter Weg vor dir. In den Felshügeln dürfte es dir nicht schwerfallen, einen sicheren Unterschlupf zu finden. Die Laryx meiden solche Orte bei Nacht.«
»Wie soll ich die Santoth finden? Das hat mir niemand gesagt.«
Kelis lächelte. »Das konnte dir auch niemand sagen, Aliver. Niemand weiß es.«
In den ersten Tagen des Alleinseins geriet Aliver häufiger in Trance als zuvor. Doch nicht sein Auftrag oder alte Erinnerungen nahmen ihn gefangen, sondern vielmehr die kurzen Eindrücke, die er von der chaotischen Erhabenheit erhaschte, die dem
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