Acacia 01 - Macht und Verrat
genug davon bekommen.
Ihm fiel ein, wie bedrohlich die schlanken, schwarzhäutigen Halbwüchsigen, mit denen er übte, auf ihn gewirkt hatten. Im Vergleich zu ihnen war er schwach gewesen. Er geriet schneller außer Atem als sie. Beim Ringen waren sie nichts als harte Knie und Ellbogen, ihr Kinn ein Messer, das sie ihm in den Rücken rammten. Er erinnerte sich an die Mädchen, die ihm mit großen Augen zuschauten, miteinander tuschelten und hin und wieder in schallendes Gelächter ausbrachen, das seinen Stolz mehr schmerzte als alles, was die Jungen ihm zufügen konnten. Er erinnerte sich, wie schwer es gewesen war, die talayischen Worte auszusprechen. Immer wieder hatte er genau das wiederholt, was er gehört zu haben meinte, nur um beißenden Spott zu ernten. Die Art und Weise, wie er das »R« rollte, hatte etwas Weibisches, sein hartes »G« etwas Kindisches, seine Fehler bei den Pausen, mit denen man dem gleichen Wortlaut völlig unterschiedliche Bedeutungen gab, wirkten dümmlich. Er erinnerte sich, wie sehr er den Sand verabscheut hatte, der vom Abendwind aufgeweht wurde. Er setzte sich auf seinem Gesicht ab und verriet seine Tränen, so sehr er sich auch bemühte, alle Spuren fortzuwischen.
Doch all das war Jahre her. Weshalb jetzt daran denken? Jetzt war er ein Jäger, ein Mann, ein Talaye. Er lief neben einem Krieger, den er schätzte wie einen Bruder. Er atmete gleichmäßig und flog dahin, Meile um Meile; als die Sonne aufging, bedeckte ein Schweißfilm seine Haut. Die Halbwüchsigen, die so bedrohlich auf ihn gewirkt hatten, waren jetzt seine Kameraden; die großäugigen Mädchen waren Frauen, die ihn mit Wohlgefallen betrachteten, Geliebte, die für ihn tanzten und von denen einige darum wetteiferten, ihm als Erste ein Kind zu gebären. Die Mundart des Volkes sprach er wie ein Einheimischer. Was diese Verwandlung bewirkt hatte, vermochte er nicht genau zu sagen. Dadurch, dass er den Laryx erlegt hatte, war er in den Augen der Dorfgemeinschaft zum Mann geworden. Er hatte sich niemals lebendiger gefühlt als bei der Jagd, war sich seiner Sterblichkeit und seines Überlebenswillens noch nie so bewusst gewesen. Doch er wollte nicht nur überleben, er wollte sich bewähren. Selbst das aber war nur eine Episode unter vielen, vielen kleineren, die alle ihre Bedeutung gehabt hatten. Wer vermag zu erklären, wie er zu dem geworden ist, der er ist? Das geschieht nicht an diesem oder jenem Tag. Es ist eine allmähliche Entwicklung, die weitgehend unbemerkt vonstattengeht. Er war ganz einfach der, der er jetzt war.
Nur dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Die Neuigkeiten, die Thaddeus überbracht hatte, waren der Grund, weshalb er sich an seine Anfangszeit im Dorf erinnerte. Thaddeus, den er gleichzeitig liebte und verabscheute. Die Dorfbewohner nannten ihn den Acacier. Wenn Aliver Talayisch sprach, gebrauchte auch er diese Bezeichnung. Außer ihm fiel anscheinend niemandem auf, wie eigenartig das war. Und es wunderte ihn auch nicht, weshalb er sich bei einem Volk, das man ihn stets als minderwertig zu betrachten gelehrt hatte, so heimisch und aufgehoben fühlte. Doch jeden Nachmittag, wenn er Thaddeus gegenübersaß und seine Muttersprache sprach, hatte er gespürt, dass er nicht zu diesen Menschen gehörte, jedenfalls nicht ganz, nicht so, wie es ihm lieb gewesen wäre. Auch er war ein Acacier. Und wenn er Thaddeus Glauben schenken konnte, war er zudem der Angelpunkt, an dem das Geschick der Welt eine neue Wendung nehmen sollte.
Aliver und Kelis liefen fast den ganzen Tag und legten nur hin und wieder eine Pause ein, um zu trinken und ein wenig zu essen. Dann warteten sie ab, bis das Essen sich gesetzt hatte, und liefen weiter. In den heißen Nachmittagsstunden ruhten sie im Schatten einer Akazie und schliefen ein wenig, doch vom späten Nachmittag bis in den Abend hinein wirbelten sie erneut mit ihren Füßen Staub auf. Es gab Momente, da Aliver in einem tranceartigen Zustand den Anlass der Unternehmung vergaß und nur noch lief, auf der Kraft seiner Beine dahinschwebte und nichts wahrnahm außer Bewegung und dem Bild der lebendigen Welt um ihn herum.
Als sie spät am Abend schließlich Halt machten, spürte er auf einmal wieder die Bürde der Verantwortung, die Thaddeus ihm auferlegt hatte. Das Ganze erschien ihm so absurd, als hätte man ihn aufgefordert, mit verbundenen Augen jeden einzelnen Berggipfel Senivals zu erklimmen. So wenig gewachsen fühlte er sich der Aufgabe. Die beiden Männer
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