Acacia 01 - Macht und Verrat
ich jetzt hier; und Ihr seid auch hier.«
Mena fuhr sich unauffällig durchs Haar, teilte es im Nacken und streifte die Strähnen über die Schultern. Auf diese Weise bedeckte sie ihre Brüste. Bislang war es ihr niemals peinlich gewesen, halbnackt herumzulaufen. In Melios Gegenwart aber wurde sie sich ihres Körpers mehr und mehr bewusst.
»Ihr habt gesagt, wir – die Akaran-Kinder – würden wieder auftauchen und eine Armee anführen, die unser Reich von Hanish zurückerobern werde. Wie kommt Ihr darauf? Seht mich an. Ich bin eine Akaran. Das wissen wir beide. Aber wo ist meine Armee? Schaut Euch um. Sehe ich etwa so aus, als wäre ich im Begriff, in den Krieg zu ziehen?«
»Darüber habe ich nachgedacht«, sagte Melio, den Blick weiterhin fest auf sie geheftet. »Ich kann es auch nicht erklären. Vielleicht ist in Eurem Fall ja etwas misslungen.«
Ihren toten Beschützer konnte man gewiss als »misslungen« bezeichnen. Trotzdem machte Mena noch immer keine Zugeständnisse. Stattdessen sagte sie ihm, er solle gehen. Er könne jedoch morgen wiederkommen. Sie könnten sich genauso gut zur Abwechslung einmal bei Tag unterhalten. Sie hatte nicht vorgehabt, das zu sagen. Die Worte kamen ihr ganz von selbst über die Lippen. Hinterher wunderte sie sich darüber und fragte sich, warum. Endlich begriff sie, und es kam ihr seltsam vor, dass sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten könnte und sich erst im Nachhinein über ihre Beweggründe klar wurde.
Am nächsten Morgen stand Melio am Tor, und sie gab Anweisung, ihn einzulassen. Als er auf sie zukam und im grellen Sonnenschein blinzelte, bis er den Schatten erreichte, sagte sie: »Ich bin nie am Fieber erkrankt.«
»Jeder hatte das Fieber«, erwiderte Melio. »Es hat sich über die ganze Welt verbreitet.«
»Ja, es hat auch auf dem Archipel gewütet. Aber mich hat es verschont.« Dies bemerkte sie in einem sachlichen, ein wenig scharfen Ton, der keinen Widerspruch duldete. Im nächsten Atemzug wechselte sie das Thema. »Bei den Vumu dürfen die Frauen keine Waffen führen. In Acacia war das anders, nicht wahr?«
Melio, der sich gern zu ihrer anfänglichen Bemerkung geäußert hätte, ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort. »Bei uns konnten alle Mädchen, die Interesse daran hatten, eine Ausbildung bekommen. Wenn sie ebenso gut waren wie die Männer, wurden sie nicht vom Militärdienst ausgeschlossen.«
»Haben viele den Anforderungen genügt?«
»Die meisten, die danach strebten, glaube ich. Die Siebte Figur stammt von Gerta. Sie hat gegen die Zwillingsbrüder Talack und Tullus und deren drei Wolfshunde gekämpft. Sie benötigte zweihundertsechzehn Bewegungen, um sie zu besiegen, aber sie hat es geschafft. Die Brüder verloren beide den Kopf und die Hunde jeder ein oder zwei Beine. Frauen haben also nicht immer nur den Anforderungen genügt; bisweilen haben sie sogar den Maßstab gesetzt.«
Mena starrte einem Moment lang gedankenverloren ins Leere. Sie wusste, weshalb sie Melio bei Tage hatte herkommen lassen und worum sie ihn bitten würde. Sie hatte sich wieder so weit gefasst, dass sie die Initiative übernehmen konnte. Gleichwohl überraschten und verwirrten sie die eigenen Wünsche. Sie hatten nichts mit ihrer gewohnten Rolle gemein, schließlich war sie eine Priesterin Maebens. Jahrelang war sie damit zufrieden gewesen. Trotzdem öffnete sie den Mund und rückte etwas näher an das heran, was sie fragen wollte. »Beherrscht Ihr alle Figuren?«
»Ich habe nur die ersten fünf richtig gelernt.«
»Und die anderen?«
»Ich kenne sie«, sagte Melio. »Die letzten Figuren habe ich in aller Eile erlernt, mehr aus Texten als durch richtiges Training. Damals ging die Welt schon aus den Fugen …«
»Melio, ich möchte, dass Ihr mich im Schwertkampf unterrichtet.« Jetzt war es heraus. Sie wusste, dass dies ein Verrat und eine Abkehr vor allem bedeutete, was sie geworden war, doch sie musste zugeben, dass sie tief in ihrem Inneren ruhiger war, als sie es sich hätte vorstellen können. Sie wollte wirklich lernen. Sie hatte schon lange lernen wollen. Wenn Vaminee ihr Vorträge hielt, hatte sie häufig Phantasien, die sich um Gewalt drehten. Oder sie träumte davon, mit ihrem Marah-Schwert zu tanzen, und fragte sich beim Aufwachen, ob etwas mit ihr nicht stimmte.
»Ist das Euer Ernst?«
Die Frage verstärkte ihre Gewissheit. »Natürlich.«
»Prinzessin, ich bin kein guter Lehrer. Und ich besitze keine Waffen mehr. Ohne Waffen kann ich Euch nicht
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