Acacia 01 - Macht und Verrat
beigebracht, doch nach und nach gelang es ihm, in die Haut von Gaquan zu schlüpfen. Er hielt die Scheide wie ein Schwert und ging langsam die Hiebe und Paraden durch. Mena stellte sich rasch auf die Attacken ein und zeigte es ihm auch.
Trotz seiner Bedenken erwärmte Melio sich für die Aufgabe. Er schien sein anfängliches Sträuben, die zierliche Statur seiner Schülerin und den seltsamen, düsteren Lagerraum zu vergessen. Seine Lippen formten ganz von selbst die Worte, und sein Verstand schien sich über die Rückkehr lange vernachlässigter Fertigkeiten zu freuen. Falls Menas nackter Oberkörper ihn in Verlegenheit brachte, so ließ er sich nichts anmerken. Gegen Mittag hatte sie die ganze Bewegungsabfolge durchgearbeitet und kannte die einzelnen Schritte auswendig.
Schließlich hielten sie in stummem Einverständnis inne. Beide waren schweißüberströmt. Eine Weile standen sie da und schöpften Atem. Melio wischte sich den Schweiß von der Stirn, doch augenblicklich bildeten sich neue Schweißperlen. Jetzt, da sie aufgehört hatten, zeichnete sich Verwirrung in seiner Miene ab. Er blickte die Scheide in seiner Hand an und drehte sie hin und her, als wisse er nicht, wie sie dorthin gekommen sei.
»Wie lange wird es dauern, bis mein Bruder uns ruft?«, fragte Mena.
»Ich dachte, Ihr glaubt nicht, dass es je dazu kommen wird.«
»Das tue ich auch nicht, aber wie lange wird es Eurer Ansicht nach dauern?«
»Wenn es so geschieht, wie man es mir gesagt hat, wird er dieses Frühjahr anfangen, nach Euch zu suchen. Und im Sommer wird er seine Armee zusammenrufen. Darüber wird viel geredet. Wenn sein Ruf erfolgt, werde ich durch die reisenden Händler davon erfahren.«
»Also noch ein paar Monate«, sagte Mena. »Das ist nicht lange. Wie gut kann ich Eurer Meinung nach in dieser Zeit den Schwertkampf erlernen?«
Melio konnte nur den Kopf schütteln. Anstatt ihre Frage zu beantworten, sagte er: »Wir sollten die Klinge einölen. Dieser Rost ist ein Verbrechen. Außerdem sollten wir Übungsschwerter anfertigen. In den Hügeln gibt es bestimmt geeignetes Holz...«
44
Maeander hatte schon als Kind gewusst, dass er andere Gaben besaß als sein Bruder. Hanish hatte einen scharfen Verstand und ein enormes Gedächtnis, er konnte gleichzeitig das große Ganze und die Kleinigkeiten im Blick behalten. Außerdem verstand er es, die Zuneigung der Massen zu gewinnen und sich die Mythen zunutze zu machen. Das war alles schön und gut, doch Maeander war derjenige, der vom greifbaren kriegerischen Zorn seines Volkes erfüllt war. Sein kühles Auftreten, sein Lächeln, sein träger Blick: Dies alles verbarg seine stetige Bereitschaft zur Gewalt.
Nie stand er vor einem Mann, ohne zu überlegen, wie er ihn binnen Sekunden töten könnte, mit oder ohne Waffe. Während andere lächelten und plauderten und Bemerkungen über sein Aussehen oder das Wetter machten, kalkulierte Maeander, wie viel Kraft er aufwenden müsste, um die zusammengelegten Finger in den Hals seines Gegenübers zu stoßen, sodass er die zum Gehirn führende Schlagader packen und abreißen konnte. Obwohl ihn diese Vorstellungen schon von Kindheit an begleiteten, war er des Unbehagens, das sein berechnender Blick bei anderen auslöste, noch immer nicht überdrüssig.
Maeander wusste, dass er und nicht sein Bruder den Zorn der Tunishni am vollständigsten verkörperte. Das hatten ihm die Ahnen selbst gesagt. Außerdem hatten sie ihn wissen lassen, dass sich das Schicksal zu seinen Gunsten wendete; er müsse lediglich warten, sich selbst treu bleiben und bereit sein. Das war mit ein Grund, weshalb er Larken all die Jahre über aufgebaut hatte. Der Acacier verstand sich ebenso gut aufs Töten wie jeder Mein und würde einen perfekten Verbündeten abgeben, wenn die Zeit gekommen war.
Dass Hanish Maeander mit der Suche nach den Akaran betraut hatte, bedeutete eine Herabsetzung gegenüber Haleeven. Doch Maeander glaubte, dass sich sein Auftrag am Ende als der wichtigere erweisen würde. Die Tunishni brauchten AkaranBlut. Nichts würde ihren Hunger besser stillen als der Lebenssaft aus den Adern von Leodan Akarans Kindern, den direkten Nachfahren Tinhadins. Corinn mochte als letzter Ausweg genügen, doch wenn die anderen noch lebten, würden die Tunishni auch ihr Blut brauchen. Welchen Lohn würde die Hand empfangen, die ihnen diese Labsal zuteilwerden ließ! Wenn die Ahnen von ihrem Fluch befreit wären, würden sie sich ihren Erlösern gegenüber erkenntlich
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