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Acacia 01 - Macht und Verrat

Acacia 01 - Macht und Verrat

Titel: Acacia 01 - Macht und Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
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ausruhte. Dann ging sie weiter.
    Am Ufer eines Bachs setzte sie sich auf einen Stein und aß ein verspätetes Frühstück. Sie dachte an die Puppe am Strand. Wem hatte sie wohl gehört? Es gab zahllose Erklärungen dafür, wie sie hierhergelangt sein könnte. Vielleicht hatte ein Kind das Interesse daran verloren und sie einem Hund zum Spielen überlassen, der sie ins Wasser hatte fallen lassen. Oder war die Puppe ein verlorener Schatz, dessen Verlust beweint worden war? Hatten trauernde Eltern sie ins Meer geworfen? Oder war sie vom Himmel gefallen? Jetzt bereute sie es, die Puppe liegen gelassen zu haben. Sie hätte sie zumindest aus dem Sand hervorziehen, sie ins Boot setzen und ihr versprechen sollen, dass sie wiederkommen und mit ihr wegfahren werde.
    Zur Mittagszeit war sie dabei, die Hügel zu erklimmen, oft auf allen vieren. Trotz des schwierigen Terrains dauerte es nicht lange, bis sie fand, was sie suchte. Als sie auf einen umgestürzten Baumstamm kletterte und durch die Schneise im Laubwerk spähte, die der Baum geschlagen hatte, erblickte sie nahe der Kuppe der dritten Hügelkette den Horst. Der Baum, auf dem er sich befand, ragte weit aus dem Laubdach hervor. Er war ein Riese, ein gewaltiges Exemplar. Es schien so, als wäre er weitgehend abgestorben. Stellenweise hatte sich die Rinde gelöst, und man sah das helle Holz. Die meisten Äste waren entweder abgebrochen, oder es war nur noch ein Knoten am Stamm zurückgeblieben. Der Horst befand sich nahe der Spitze. Aus der Ferne sah er aus wie ein wirrer Haufen Schutt, wie von einem seltsamen Akt der Natur angehäuftes Treibgut. Sie konnte keinerlei Bewegung darin entdecken.
    Der Wald war so dicht, dass sie das Adlernest gleich wieder aus den Augen verlor. Sie überquerte eine Hügelkette und dann die nächste. Auf jeder Kuppe schwenkte sie absichtlich ein wenig nach rechts. Auf der dritten Kuppe wandte sie sich nach links, in der Hoffnung, so zu ihrem Ziel zu gelangen. Sie brauchte zwei Stunden und konnte die meiste Zeit über nur etwa hundert Schritte weit sehen. Sie befürchtete, sie könnte in Steinwurfnähe an dem Horst vorbeikommen, ohne ihn zu bemerken.
    Schließlich fand sie ihn mit der Nase. Er stank nach Verwesung, nach Fäulnis. Sie hätte ihn am liebsten gemieden. Er war widerlich, und eben deshalb hielt sie darauf zu. Kurz darauf stand sie vor dem gewaltigen Baum. Aus der Nähe wirkte er noch höher als zuvor. Er war so dick, dass drei oder vier ihrer Armlängen nötig gewesen wären, um ihn zu umspannen. Der Gestank rührte von dem Vogelkot, den Fleischresten und Knochen her, die auf dem Boden verstreut waren: Rippen, zersplitterte Oberschenkelknochen, Teile vertrockneter Organe, der Schädel eines Nagetiers, eine Ledersandale, ein vertrockneter Unterarm – der Unterarm eines Kindes mitsamt der Hand.
    Mena übergab sich. Es überkam sie schlagartig, gleich darauf war es vorbei. Sie wischte sich den Mund ab und starrte wie gebannt den Arm an. Das war der Grund, weshalb sie hergekommen war. Tief in ihrem Innern hatte sie es die ganze Zeit über gewusst. Deshalb hatte sie sich das Schwert auf den Rücken geschnallt, doch sie hatte auch eine hartnäckige Hoffnung in ihrem Innern gehegt. Ein Teil von ihr hatte gehofft, sie würde Maeben in einem Baumpalast antreffen. Vielleicht raubte sie ja tatsächlich Kinder, um sich von ihnen bedienen zu lassen. Vielleicht würde sie feststellen, dass alles, was man sie glauben gemacht und als was sie für das Volk von Vumu jahrelang dagestanden hatte, der Wahrheit entsprach.
    Doch was immer sie auch gehofft hatte, der Arm widerlegte es. Sie hatte ihr Leben einer Lüge gewidmet. Sie hatte über unschuldige Menschen geurteilt. Sie hatte sie getadelt – warum? Weil sie ihre Kinder von ganzem Herzen liebten? Weil sie sich ohne Einschränkung ihres Lebens erfreuen wollten? Und die ganze Zeit über war ihre Göttin nichts weiter als ein fleischfressendes Tier.
    Sie trat näher an den Arm heran. Die verschrumpelten, ledrigen Finger waren geschlossen. Als sie in die Hocke ging, bemerkte sie ein metallisches Funkeln. Sie löste den Gegenstand aus den Fingern.
    Es war ein silberner Aalanhänger. Einen solchen Aal hatte sie schon einmal gesehen... vor Monaten am Pier. Es hatte ihr gefallen, wie er sich durchs kristallklare Wasser geschlängelt hatte; der Anhänger beschwor diese Bilder wieder herauf. In den rundlichen Kopf war ein Loch gebohrt. Der darin haftende Schnurrest fiel zu Boden. Sie stellte sich vor, wie der

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