Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Acacia 01 - Macht und Verrat

Acacia 01 - Macht und Verrat

Titel: Acacia 01 - Macht und Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
Vom Netzwerk:
deshalb...«
    Einen Moment lang sah es so aus, als wolle Corinn sie schlagen, doch stattdessen trat sie vor und schloss ihre jüngere Schwester in die Arme. Dort fand Mena die allererste Andeutung von Mitgefühl, die ihr seit dem Bankett zuteilgeworden war. Einerseits war es traurig, doch es war auch tröstlich, dass sie wenigstens dieselben Ängste und Sorgen mit einer gemeinsamen Klarheit empfanden, an der es ihrer Beziehung ansonsten mangelte.

16

    Von weitem hatte der Vogel große Ähnlichkeit mit den kleineren Tauben, von denen er abstammte. Aus der Nähe gesehen, nahm das Tier eine ganz andere Gestalt an. Es war so groß und kräftig wie ein junger Seeadler, mit dem Schnabel eines Raubvogels und Augen, die die Welt mit weit reichender Scharfsicht absuchten. Die Krallen steckten in einer Art mit stählernen Spitzen bewehrten Lederhandschuhen, in deren Gebrauch das Tier früh geschult worden war. An einem Fuß war ein Röhrchen für zusammengerollte Nachrichten befestigt. Es war ein Botenvogel, dem Namen nach vielleicht eine Taube, in Wahrheit jedoch ein Geschöpf, dessen Wehrhaftigkeit seiner hingebungsvollen Entschlossenheit im Fluge um nichts nachstand. Fast niemals fiel es anderen Raubvögeln zum Opfer. Somit war es der Bote der Wahl für wichtige Nachrichten, wie jene, die spät an dem Abend gesandt wurde, an dem Thasren Mein König Leodan niedergestreckt hatte.
    Die Taube stieß sich in dem Bezirk Acacias, der ausländischen Würdenträgern vorbehalten war, vom Arm ihres Betreuers ab. Ihre Schwingen schlugen die salzige Luft und trugen sie in den Nachthimmel empor. Zunächst flog sie durch herabfallende Schneeflocken, und die Welt war grau und unscharf. Irgendwo über dem Festland im Osten Alecias klarte der Himmel auf. Der Vogel flog die ganze Nacht hindurch, nur selten hielten seine Flügel inne, um ihn im Gleitflug dahinsegeln zu lassen.
    Im Morgengrauen erreichte er einen anderen Vogelmeister an der Küste von Aos. Vor einem rot glühenden Himmel glitt er hinab. Die an seinem Bein befestigte Nachricht wurde abgenommen und – ungelesen – am Bein eines anderen Vogels befestigt.
    Dieser legte noch am selben Tag die Strecke nach Unteraushenia zurück, hob und senkte sich im Flug mit den Konturen des immer wieder von Felsplatten durchbrochenen Graslandes. Ein dritter Botenvogel beförderte die Nachricht durch die Gradthische Lücke und traf, zwei Tage nachdem die Reise begonnen hatte, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang in Cathgergen ein. Diesmal wurde die Nachricht aus dem Röhrchen gezogen, im Eilschritt durch die kalten Gänge des Palasts getragen und in die weitläufigen Gemächer gebracht, die gegenwärtig Hanish Meins jüngeren Bruder Maeander und dessen Gefolge beherbergten.
    Als sein Name gerufen wurde, erwachte Maeander. Der Rufer verharrte vor der Tür, sang leise das Gebet, das zugleich um Vergebung für die Störung bittet und einen wichtigen Grund dafür verheißt. Maeander erhob sich nackt aus der Wärme seines Nests und blickte auf das Durcheinander von Leibern, Kissen und Felldecken hinunter, in dem er geschlafen hatte. Das Bett war eigentlich ein großer gepolsterter Teil des Fußbodens. Es wurde von unten durch das Röhrensystem gewärmt, das den Dampf aus der Tiefe der Erde in der ganzen Festung verteilte. Hier und da waren schlanke Frauenkörper zu sehen, hier ein flachsgelber Haarschopf, dort ein Stück eines Beines, ein über den nackten Rücken einer anderen Frau gelegter Arm, ins weiße Fuchsfell der Unterlage gekrallte Finger. Wenn es Maeander nach Liebe gelüstete, nahm er sich gleich mehrere Frauen, und alle mussten einander so ähnlich sein, dass sie am Ende zu einem einzigen Wesen verschmolzen. Als er aufrecht dastand, bekam er von der Kälte im Raum eine Gänsehaut. Er hatte es am liebsten, wenn die Sinneseindrücke zwischen den Extremen wechselten, von heiß zu kalt, von Lust zu Schmerz, von den weichen Rundungen der Konkubinen zu den scharfen Kanten und der strengen Förmlichkeit des Kriegerlebens.
    Als er die Tür aufriss und die Hand nach der Nachricht ausstreckte, war er bereits hellwach. Er schloss die Tür und las die Botschaft. So kurz sie auch war, er las sie noch ein zweites und ein drittes Mal. Es war, als hätte er ein Leben lang auf die Neuigkeiten gewartet, die sie verkündete. Sein Herz erinnerte ihn an all die mit Warten verbrachten Jahre, indem es wie wild klopfte, als wollte es in möglichst kurzer Zeit die vielen verflossenen Tage zählen.
    »Seid

Weitere Kostenlose Bücher