Acacia 02 - Die fernen Lande
Kinder zu ihrer Karawane. Selbst alte Frauen rufen ihr mit tränenfeuchten Augen zu. Das habe ich selbst gesehen. Die jungen Mädchen aus den Dörfern streuen Wildblumen vor ihren Füßen. Sie haben angefangen, sie ›Mutter des Lebens‹ zu nennen.«
»Den Titel hat sie sich selbst ausgedacht«, sagte Lady Shenk. »Sie ist gerissen, Barad. Ich bin mir nicht sicher, ob du ihr wirklich gewachsen bist.«
Der große Mann runzelte die Stirn. »Es geht nicht darum, ob ich ihr gewachsen bin oder nicht. Es ist der Wille des Volkes, der sie besiegen muss.«
Renold feixte. »Umso schlimmer für uns. Das ›Volk‹ schlingt ihre Geschenke in sich hinein. Und, um ehrlich zu sein, es ist keine Kleinigkeit, Wasser aus einer trockenen Quelle fließen lassen zu können. Sie wirkt Magie. Denkt einmal darüber nach. Sie muss die Geheimnisse der Santoth entdeckt haben, es kann gar nicht anders sein.«
» Das Lied von Elenet «, flüsterte Hatz.
Die Gruppe versank in Schweigen. Barad öffnete den Mund, um etwas Abfälliges zu sagen, doch er wusste nicht, was, und beschloss, sich an dem Schweigen zu beteiligen. Das Lied von Elenet . Kann es sein, fragte er sich zum hundertsten Mal, dass solch ein Buch existiert und Corinn es besitzt? Den größten Teil seines Lebens hatte er die Überlieferungen über die Santoth für Hirngespinste gehalten, für Geschichten, dafür gedacht, die Massen zu erheitern und das Empfinden der Acacier für ihre vergangene Erhabenheit zu nähren. Doch das war vor Aliver gewesen, bevor er die Massen durch Traumgeflüster vom Nebel befreit hatte, bevor die Zauberer auf den Feldern von Talay erschienen waren und Hanish Meins Armee vernichtet hatten, und bevor hier und da riesige Tiere aufgetaucht waren wie Unkraut. Etwas auf der Welt hatte sich verändert. Alte Mächte waren von Neuem am Werk, und wenn dem tatsächlich so war, dann hatte die Königin vielleicht auch eine Möglichkeit gefunden, sie sich zunutze zu machen. Das war ein grässlicher Gedanke, und es war nicht der einzige, mit dem sie sich auseinandersetzen mussten.
Um das Thema zu wechseln, forderte Barad Renold auf, in allen Einzelheiten zu berichten, was er über die Pläne der Gilde herausgefunden hatte. Der Gelehrte sagte, dass die Gilde in den meisten Bereichen undurchdringlich sei und ihre genauen Absichten so verschleiert seien, als wären sie in den Nebel gehüllt, mit dem die Gilde einst gehandelt hatte. Die meisten von jenen, die über die Grauen Hänge segelten, glaubten, die Gilde hätte die Überreste ihrer beschädigten Plattformen verbrannt und den Stützpunkt im Tausch für die Außeninseln aufgegeben. Schiffe der Gilde patrouillierten im Archipel wie Barrakudas auf Jagd; sie enterten jedes Schiff, das den Inseln zu nahe kam, ein paar hatten sie sogar versenkt und die Mannschaft als Futter für die Haie auf den Wellen tanzen lassen.
Es war Renold nicht möglich gewesen, auf die Inseln zu gelangen, doch durch Gespräche in den Schenken der Küstenstädte hatte er ein bisschen über das herausgefunden, was die Gilde dort trieb. In Tendor hatte er mit Siedlern gesprochen, die durch Soldaten des Ishtat-Inspektorats von den Inseln vertrieben worden waren. Manche hatten Fernrohre benutzt und gesehen, wie Ingenieure der Gilde das Land vermessen hatten. Und ein paar berichteten, dass sie angeheuert worden waren, um an großen Gebäudekomplexen zu arbeiten, die überall auf der Inselkette standen. Ein anderer Mann behauptete, eine Schiffsladung hölzerner Dübel und dünner Bretter nach Thrain geschafft zu haben. Die Fracht war ihm aufgefallen, weil sie aus so vielen völlig gleichartigen Gegenständen bestand und niemand ihm erklärt hatte, wofür sie gedacht waren. Der Seemann hatte vermutet, dass die Bretter zu Übungsschwertern verarbeitet werden sollten, aber Renold hatte eine andere Idee.
»Es ist mir klar geworden, als ich auf dem Weg hierher im Haus meiner Schwester Rast gemacht habe«, sagte er. »Sie hat vier Kinder, von denen zwei immer noch so klein sind, dass sie in Kinderbetten schlafen. Die Seitenteile dieser Betten bestehen aus genau solchen Brettchen, wie sie der Seemann beschrieben hat.« Etwas an dieser Aussage machte ihm derart zu schaffen, dass seine Stimme jäh erstickte. Die anderen warteten, während er einen Schluck Wasser trank und sich räusperte. Er gestikulierte mit den Händen, um deutlich zu machen, dass er einen Augenblick brauchen würde, um zu erklären, was er meinte. »In der Vergangenheit wurde die
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