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Acacia 02 - Die fernen Lande

Acacia 02 - Die fernen Lande

Titel: Acacia 02 - Die fernen Lande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
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nahm, stieg ein Gedanke in ihr auf. Vielleicht war sie es gewesen, die geschrien hatte, vielleicht war Maebens Wut aus ihr hervorgebrochen. Allerdings dachte sie nicht lange darüber nach. Sie erklomm den Gipfel und erblickte um sich herum ein Panorama aus ähnlichen Hügeln, bis ihr Blick sich senkte und sie das Tier fand – genau dort, wo sie es vermutet hatte. Es lag in der nächsten Schlucht, die Flügel ausgebreitet und von Blutflecken und Rissen von den vielen Bolzentreffern übersät. Sein Körper war verdreht, der Schwanz ein einziges Knäuel mit all den Seilen und den daran hängenden Gewichten. Es sah zerstört aus. Tot. Mena fühlte, wie sich ein Knoten in ihrem Bauch zusammenzog. Sie machte sich daran, langsam und vorsichtig hinabzuklettern, und versuchte dabei, keine Steine loszutreten.
    Als sie sich dem Tier näherte, zog sie ihr Langschwert. Eigentlich hatte sie keine Angst; es war eher eine instinktive Handlung. In Wirklichkeit schien die Kreatur viel kleiner zu sein als sie sie in Erinnerung hatte. Verglichen mit einigen anderen Übeldingen, gegen die Mena gekämpft hatte, war sie deutlich weniger massig, aber dies war kein Geschöpf, dessen Stärke anhand seiner Masse beurteilt werden sollte. Mit ihrem schlanken Rumpf und dem schmalen, langgestreckten Schwanz und ihren Flügeln – diesem Durcheinander aus fingerdünnen Knochen und Membranen – war es schwierig, die Kreatur mit irgendetwas zu vergleichen, was sie bisher gesehen hatte. In was für einer scheußlichen Position sie dalag, um die Steine gekrümmt. Ihr Kopf lag verkehrt herum da, so dass der weiche Teil ihres Halses entblößt war. Sie war beeindruckend. Es schmerzte Mena, die Wunden auch nur anzusehen, die Risse, die Stellen, an denen Blut geflossen oder die blutverschmiert waren. Das letzte Übelding. Tot.
    »Sie haben mir gesagt, du bist ein Drache «, sagte sie, »aber du bist kein Drache. Du bist ein Übelding … aber doch wieder keins. Ich weiß nicht recht, was du bist, aber du bist kein Ungeheuer.«
    Sie hatte leise gesprochen, ohne dass es ihr bewusst gewesen war. In der darauf folgenden Stille blickte sie sich verlegen um; sie hoffte, dass niemand mit anhörte, wie sie mit einem toten Tier sprach. Aber es war niemand da, weder hier, in diesem Tal, noch im Umkreis vieler Meilen. Zum ersten Mal dachte sie an Melio und die Soldaten, die bestimmt verzweifelt nach ihr suchten. Ihr war klar, dass sie eigentlich etwas tun müsste, um ihnen zu helfen: vielleicht in Richtung Osten zurückmarschieren, irgendwo eine Siedlung finden oder irgendwie ein Signalfeuer entfachen. Doch als sie den Echsenvogel betrachtete, wollte sie das nicht tun. Sie würden sie so oder so finden. So viel Vertrauen hatte sie in sie.
    Stattdessen ließ sie ihren Blick über jeden Zoll des Wesens gleiten. Es musste ein Weibchen gewesen sein, dachte sie. Die Rundungen des Halses waren sinnlich, dramatisch in ihrer Todespose. Mena trat dicht an sie heran und strich mit den Fingern über die Vogelechse. Sie fühlte sich weich an, erwärmt von der Hitze der Sonne. Ihr Fell lag dicht an der Haut, etwas Ähnliches wie mit Federn besetzte Schuppen, in sanften, cremigen Farbtönen. Es wies ein Muster auf, eine vertrackte ineinander verschachtelte Zeichnung, doch es gelang Mena nicht, ihren Blick ganz darauf zu konzentrieren. Das Muster schien sich vor ihren Augen zu verändern.
    »Meine Schwester hätte dich um diesen Pelz beneidet«, sagte sie. Und als sie das dachte, wurde sie plötzlich traurig, weil sie diejenige war, die ihn Corinn bringen würde.
    Um den Schaden, den die Kreatur genommen hatte, hätte Corinn sie allerdings gewiss nicht beneidet. Jede Wunde drehte Mena den Magen um. Sie konnte den Anblick nicht ertragen, und plötzlich konnte sie auch die Vorstellung nicht ertragen, dass die anderen die Vogelechse so sehen würden – ihre Schönheit so von den Waffen befleckt, die Mena selbst ins Spiel gebracht hatte. Ohne sich im eigentlichen Sinne dazu zu entschließen, machte Mena sich daran, zu tun, was sie konnte, damit der Schaden nicht mehr so deutlich sichtbar war. Sie zog die Armbrustbolzen heraus und warf sie weg. Sie entwirrte die Seile und zerrte und stieß die Steingewichte die Schlucht hinunter. Sie hob sanft den Schwanz der Kreatur auf und streckte ihn zu seiner vollen Länge aus.
    Vor allem kümmerte sie sich um die wundersamen Flügel, legte sie behutsam zurecht. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich zum ersten Mal entfaltet hatten, so

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