Acacia 02 - Die fernen Lande
»Ich habe das Mädchen selbst gesehen«, sagte er. Es kam ihm einfach so über die Lippen. Die Lüge hüpfte ihm von der Zunge, bevor er sorgfältig abgewogen hatte, ob er sie verwenden sollte.
»Ihr habt Wren gesehen?«, fragte Rhrenna.
»Ja. Natürlich würde ich niemals einer Hure trauen, ohne mich mit eigenen Augen zu überzeugen. Und genau das habe ich getan. Sie hat die Hebamme besucht.« Im Stillen dachte er, dass es die geringste Sorge der Hure sein würde, ihre Finger zu verlieren, sollte sie tatsächlich gelogen haben.
»Wren war eine Piratin«, sagte Corinn. »Da ist es ganz natürlich, dass sie Hilfe bei einer Gemeinen sucht. Aber es könnte auch sein, dass sie an irgendeiner Krankheit leidet. Deine Quelle könnte sich irren, was die Einzelheiten betrifft.«
Rhrenna gab ein zustimmendes Gemurmel von sich.
»Oder es könnte sein, dass die Bettgefährtin Eures Bruders ein Junges im Bauch hat.« Die Worte klangen härter, als er es beabsichtigt hatte; allmählich brodelten Wut und Enttäuschung in ihm. »Und darauf würde ich wetten. Ihr geht doch wohl nicht davon aus, dass sie in dem Bett einfach nur schlafen, oder? Wie Bruder und Schwester?« Er fragte sich, ob er zu weit gegangen war. Aus irgendeinem Grund schien seine normale Zuversicht jedes Mal, wenn er mit der Königin sprach, reichlich fadenscheinig zu sein. Sie war da, ja, doch er hatte stets das Gefühl, als könne sie jeden Moment von einer Brise davongeweht werden. »Ich bitte um Vergebung, Euer Majestät. Ich wollte nicht ungehobelt sein …«
»Es ist mir egal, ob du ungehobelt bist oder nicht«, sagte Corinn. »Mir ist nur wichtig, dass du mir gut dienst. Und das muss sich tatsächlich erst noch erweisen. Du hast mit der Hure gesprochen, aber was ist mit ihrer Base? Oder mit der Hebamme?«
»Ich wollte Euch erst davon erzählen, bevor ich womöglich ihren Argwohn erwecke. Fürs Erste ist es am besten, wenn sie glauben, Ihr wüsstet nichts von der Täuschung.«
»Und die Hure wird nicht schnurstracks zu ihrer Base laufen oder Wren warnen, dass irgendein Rohling nach ihr gefragt hat?«
Delivegu runzelte die Stirn. Hielt sie ihn für einen Rohling? Brutales Handeln machen einen nicht zum Rohling. Das würde er sie lehren müssen. »Nein, das glaube ich nicht«, antwortete er. »Glaubt mir, ich kenne solche Dirnen. Sie denkt vor allem an sich und an ihre anderen neun Finger, und danach an irgendwelche anderen Körperteile. Ihr könnt an mir zweifeln, so viel Ihr wollt, Euer Majestät, aber das wird die Tatsachen nicht ändern. Ich wollte nur, dass Ihr es wisst. Ich möchte für Euch von Nutzen sein. Ich hoffe, Ihr wisst das.«
Die Königin wandte sich von der mittlerweile roten Sonne ab, atmete tief aus und lehnte sich gegen das Balkongeländer. »Du bist für mich auf deine Weise genauso nützlich wie Mena oder Dariel oder Rialus oder irgendein anderer Berater«, sagte sie.
Diese freimütige Aussage und die Art und Weise, wie sie vorgebracht wurde trafen Delivegu vollkommen unvorbereitet. Er versuchte, mit einer ironischen Bemerkung zu antworten, doch ihm fiel nichts ein. Er wollte andere Dinge von ihr, Dinge, die nicht so edel waren, aber er war ungewöhnlich ehrlich gewesen, als er gesagt hatte, dass er ihr von Nutzen sein wollte. Vielleicht vergalt sie das nun mit gleicher Münze.
»Weißt du, Delivegu, zu herrschen ist eine Bürde. Die Leute halten es für ein Vorrecht. Ein Geschenk. Einen großen Luxus. Sie alle haben keine Ahnung.«
»Euer Majestät, ich bin überzeugt, dass niemand besser dazu geeignet ist, diese Bürde zu tragen, als Ihr. Tinhadin wäre stolz gewesen, wenn er Euch als Tochter gehabt hätte.«
Dieser Gedanke ließ sie einen Moment innehalten. Die Vorstellung schien sie beinahe zu belustigen, aber die Melancholie, die sich ihrer bemächtigt hatte, gewann die Oberhand. »Ich bekomme hier etwas in den Griff«, fuhr sie fort und deutete mit der Hand auf das Gebiet, das sie meinte, »nur um zu erfahren, dass dort drüben etwas schiefgegangen ist.« Sie brachte ihre andere Hand ins Spiel, und wischte dann beide mit einem Fingerschnipsen weg. »Das bekomme ich ebenfalls in den Griff, und zwei neue Probleme fallen vom Himmel. Ich kümmere mich darum, und dann sprießen fünf stinkende Unkräuter unter meinen Füßen. Warum kann es nicht einmal einen einzigen Augenblick lang aufhören?«
»Diese Zeit wird kommen«, sagte Rhrenna. Ihr Gesicht war angespannt und besorgt. Sie berührte die Königin auf eine Weise am
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