Acacia 02 - Die fernen Lande
war, drehte sie sich um und betrachtete Mena, dann ging sie ein paar Schritte weiter, wandte noch einmal den Hals und sah sie erneut an.
Mena presste die Finger ihrer gesunden Hand an die Brust. »Du willst, dass ich dir folge?« Die Kreatur antwortete natürlich nicht, aber Mena tat genau das.
In dem unebenen Gelände vorwärtszuhumpeln war nicht leicht. Anfangs dachte sie mehrmals beklommen, sie hätte die Kreatur hinter einem Grat oder einem Felsvorsprung verloren. Aber jedes Mal war sie da, wartete, schaute zu ihr zurück. Ein paarmal schien es sogar, als ob die Kreatur bei Menas Anblick das Halsgefieder aufstellte, ein Zeichen von – von was? Freude? Ermunterung? So verging der Tag, beide trotteten allein durch eine Landschaft, über die unablässig der Wind hinwegstrich.
Am Abend waren sie immer noch zusammen. Sie verbrachten die Nacht in einem kleinen Dattelpalmenhain. Eine winzige Ruine wies darauf hin, dass diese Gegend früher einmal bewohnt gewesen war, doch das musste schon Jahrhunderte her sein. Mena bedrängte die Kreatur nicht, aber sie blieb dicht genug bei ihr, dass sie mit ihr sprechen konnte, ohne die Stimme heben zu müssen. Sie erzählte ihr von Melio und den anderen, die wahrscheinlich just in diesem Augenblick nach ihnen suchten. »Sie sind hervorragende Fährtensucher«, erklärte sie. »Bald werden sie uns finden. Ich weiß nicht, warum, aber es erscheint mir sehr wichtig, dass dir kein weiteres Leid zustößt. Das scheint das Wichtigste auf der Welt zu sein: dass dir nichts passiert. Vielleicht bin ich es einfach nur leid zu töten. Ich sollte es leid sein. Aber ich wollte dir nichts zuleide tun. Ich habe einfach nicht mit dir gerechnet.«
Mena verstummte. Sie wandte den Blick ab, schüttelte den Kopf und sah dann die Kreatur wieder an. Deren Augen waren ebenso aufmerksam auf sie gerichtet. Ihr Maul, bemerkte Mena, bog sich dicht am Kiefergelenk nach oben. »Warum will ich bloß unbedingt mit dir reden? Du kannst mich doch nicht verstehen. Es ist absurd. Du verstehst mich nicht, oder?«
Die Kreatur starrte sie an. Und starrte sie an. Natürlich konnte sie sie nicht verstehen. Mena atmete aus und griff nach einer weiteren Dattel. Da nickte die Kreatur, nur ein winziges Neigen des Kopfes, doch es reichte aus, um Mena innehalten zu lassen. War das Zustimmung? Hatte die Kreatur ihr mitgeteilt, dass sie verstand? Oder war sie einfach nur der Bewegung ihrer Hand gefolgt? Mena wollte sie fragen, doch als sie in die runden, großen, unschuldigen Augen blickte, kam ihr das Ganze vollkommen absurd vor.
»Vielleicht habe ich mir den Kopf schlimmer angeschlagen, als ich es in Erinnerung habe.«
Als Mena am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie denselben Gedanken. Noch ehe sie wusste, was sie tat, stemmte sie sich mit beiden Armen hoch. Als sie merkte, dass einer mit einer Steinschiene beschwert war, schüttelte sie ihn und versuchte, das Ding loszuwerden. Erst als sie an dem Knoten der Schnur gezerrt hatte, der die Schiene an Ort und Stelle hielt, wurde ihr klar, was sie da tat. Und damit war sie schlagartig vollkommen wach.
Der Arm – ihr gebrochener, von Blutergüssen übersäter Arm – tat nicht mehr weh. Sie krümmte die Finger und stellte fest, dass sie sich ohne Schmerzen bewegen ließen. Gut, sie waren ein bisschen steif, und etwas wie die Erinnerung an Schmerz zog sich durch das Gewebe, doch es war kein Irrtum möglich: Ihr Arm war fast geheilt! Sie löste die Schiene, hob den Arm und bewegte ihn. Zutiefst verwirrt saß sie da und starrte ihn an, fragte sich, ob sie verrückt gewesen war, als sie einen gesunden Arm geschient hatte, oder ob sie jetzt verrückt war, weil sie glaubte, er sei geheilt. Und dann fiel ihr die Kreatur ein.
Sie sprang auf und drehte sich um sich selbst, bis sie die vertraute Gestalt auf einer nahe gelegenen Hügelkuppe entdeckte. Die Kreatur stand da und scharrte ungeduldig mit den Füßen; sie wartete auf sie. Mena hätte bleiben können, wo sie war, hätte nicht an ihre plötzliche Heilung glauben müssen, doch es war, wie es war. Die Kreatur hatte diese Heilung irgendwie zuwege gebracht. Ihretwegen – weil sie bei ihr gewesen war, sie berührt und den Zitronengeruch eingeatmet hatte – war Mena geheilt, genau wie die Kreatur von der Schwelle des Todes zurückgekommen war und jetzt nur noch ein paar schwache Narben an den Angriff erinnerten. Und diese Kreatur verlangte nach Menas Gesellschaft, genau wie sie selbst länger bei ihr bleiben wollte.
Und
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