Acacia 02 - Die fernen Lande
so begann ein weiterer Tag ihrer Reise. Sie wusste bereits, was geschehen würde. Sie suchten nach Früchten und Wasser, das Einzige, was die Kreatur zu sich zu nehmen schien. Entweder sie wusste aus der Erinnerung, wo die Haine sich befanden und welche Früchte im Augenblick gerade reif waren, oder sie roch sie und folgte ihrer Nase. Einmal, als die Kreatur etwas roch, das sie in Aufregung versetzte, versuchte sie, Mena anzutreiben. Sie rannte voraus und wieder zurück, wirbelte Staubwolken auf, drängte sie weiter. Menas menschliche Schritte reichten eindeutig nicht aus.
Die Kreatur stupste Mena in die Seite und senkte die Schulter. Verblüfft verstand Mena, was sie ihr anbot. Sie schwang ein Bein über das Rückgrat der Kreatur, glitt hinüber und lag einen Augenblick lang mit gespreizten Armen und Beinen auf ihrem Rücken. Die Kreatur sah sie erheitert an. Mena versuchte, eine bessere Position zu finden. Und es gab eine: aufrecht, die Beine um den Hals der Kreatur gelegt und fest zwischen den Höckern der Flügel eingeklemmt. Nachdem sie es sich so bequem gemacht hatte, setzte die Kreatur sich wieder in Bewegung und rannte in weiten Reptiliensätzen dahin, die Mena niemals vergessen würde.
Die Kreatur musste auch gewusst haben, wie man Menschen aus dem Weg geht, denn sie sahen den ganzen Tag lang niemanden. Einmal plünderten sie einen Apfelgarten, der anscheinend von Menschenhand angelegt worden war, doch sie mieden alle, die vielleicht in der Nähe sein mochten. Bei einer anderen Gelegenheit erspähte Mena von einem Felsvorsprung aus in der Ferne ein paar Häuser. Sie hätte in einer Stunde dort hingehen und sich zu erkennen geben können, und dann wäre sie wieder unter Menschen gewesen. Doch obwohl sie hungrig war, nachdem sie nichts als Früchte gegessen hatte und ihr manchmal sogar ein bisschen schwindlig war, wollte sie noch keine menschliche Gesellschaft.
Tatsächlich suchte sie oft den Horizont ab, weil sie wusste, dass Suchtrupps die Gegend nach ihr durchkämmten, Menschen, die ihr etwas bedeuteten und denen sie vertraute, die viele Tage lang an ihrer Seite gekämpft hatten. Die Strecke, die sie und die Kreatur jeden Tag zurücklegten, würde es für die Fährtensucher schwierig machen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt gefunden werden wollte, von ihnen oder von Melio. Noch nicht. Nicht, bevor sie dies alles hier besser verstand.
Als Mena am Nachmittag des dritten Tages neben der Kreatur herging, sagte sie: »Du brauchst einen Namen. Ich meine, einen Namen, mit dem ich dich rufen kann. Ich kann doch nicht als Echse oder Vogel oder Drache an dich denken.« Mena strich der Kreatur über den Hals. »Du bist auch kein Drache. Du bist viel freundlicher. Du brauchst einen richtigen Namen.« Nachdenklich ging sie weiter, knabberte dabei an ihrem Daumennagel. Der Kopf der Kreatur hob und senkte sich neben ihr, tanzte auf dem geschwungenen Hals.
»Mein Vater hat mir einmal eine Geschichte von einem Jungen erzählt, der eine Echse als Schoßtier hatte. Ich glaube, es war ein Bethuni-Märchen. Der Junge hat die Echse Elya genannt. Er hat sie großgezogen, seit sie aus dem Ei geschlüpft war. Sie waren immer zusammen, obwohl es seinem Vater anfangs nicht recht war, das Tier in seiner Hütte zu haben. In den Überlieferungen der Bethuni sind Waisen jeder Art heilig, und sie bringen denen, die für sie sorgen, Glück. Aber der Vater war ein selbstsüchtiger Mann, der die Kontrolle über alles haben wollte, und ihm hat die Liebe nicht gefallen, die sein Sohn für ein einfaches Reptil empfunden hat.«
Mena warf ihrer Begleiterin einen Seitenblick zu. »War nicht böse gemeint. Wie auch immer, er hatte eine so große Abneigung gegen die Echse, dass er sie eines Nachts, während der Junge schlief, gepackt und in die Dunkelheit hinausgetragen hat. Er hat sie an einen Baum gebunden und mit einem Spaten ein Loch gegraben. Das Loch sollte das Grab der Echse werden, denn er wollte sie töten. Aber bevor er mit dem Graben fertig war, ist er mit seiner Schaufel auf etwas gestoßen. Er hat es aus dem Loch gezerrt, und es war ein Sack mit Goldmünzen. Alte Münzen, die vor langer, langer Zeit vergraben worden waren und auf die niemand mehr Anspruch hatte. Und plötzlich war er ein reicher und wichtiger Mann. Das wäre niemals geschehen, wenn die Echse nicht gewesen wäre, und er hat es als Zeichen der Götter betrachtet, dass die Kreatur etwas Besonderes war. Deshalb hat er sie dann doch nicht getötet.
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