Acacia 02 - Die fernen Lande
Frauen angezogen fühlte, konnte die Schönheit ihrer vollen Lippen, ihrer braunen Haut, ihrer gerundeten Schultern und Brüste und des Schwungs ihrer Hüften übersehen. Wann hatten solche Formen jemals so viel Macht verkörpert, waren sie von einem so berechnenden Verstand gelenkt worden? Wann hatte in einem so sinnlichen Gesicht jemals so viel Gefahr gelauert? Mit ihrem jähen Aufstieg zur Macht hatte sie alle überrascht, und alle, die sie schon in ihrer Jugend gekannt hatten, waren weiterhin schockiert.
Corinn wusste all dies genauso gut wie alle anderen. Sie legte großen Wert darauf, Dinge zu wissen. Sie wusste, dass die Menschen in der Unterstadt sie »Die Rose mit den Reißzähnen« nannten. Eigentlich gefiel ihr der Name. Sie wusste, welche Adligen immer noch töricht genug waren zu glauben, sie könnten sie ins Bett kriegen. Sie wusste, dass im Senat eine Bewegung im Gange war, sie zu einer Heirat zu zwingen. Wenn es nach dem Willen dieser Senatoren ging, würde sie einen rechtmäßigen Erben gebären, der den Sohn ersetzten sollte, den Hanish gezeugt hatte. Es würde nicht nach ihrem Willen gehen. Sie wusste, welche Senatoren sie am meisten hassten, weil sie ihre Macht beschnitten hatte, und welche Clans und Stämme sich am meisten an ihrer jüngsten Entscheidung rieben, eine landesweite Währung einzuführen – den Hadin –, den ausschließlich das königliche Schatzamt prägte. Sie wusste, welche Adligen man bei der komplizierten Aufgabe, ihre Pläne voranzutreiben, gegeneinander ausspielen musste. Und sie war froh, dass sie all diese Dinge wusste. Zusammengezählt und gegeneinander abgewogen, neigten sich die Waagschalen stets zu ihren Gunsten. Ihre Herrschaft war sicher, und sie hatte Pläne, sie schon bald noch sicherer zu machen.
Sollten sich dank der unzähligen, vielschichtigen Pläne, die mit ihrer Position verbunden waren, feine Fältchen in ihre Augenwinkel eingegraben haben, so war es eben so. Und sollten ihre Hüften und Brüste voller sein als vor der Geburt ihres Sohnes – was spielte das für eine Rolle? Als Mädchen war sie wunderschön gewesen, aber sie wusste, dass es andere Mittel gab, um als Frau schön zu sein. Noch war sie nicht so alt wie ihre Mutter – so, wie sie sich an sie erinnerte –, was bedeutete, dass sie noch nicht in dem Alter war, in dem sie sich an ihrem eigenen Verständnis von Schönheit messen musste. Und von Sterblichkeit. Dieser Tag würde kommen, das wusste sie, noch aber war es nicht so weit.
Bis auf Weiteres war ihr Äußeres ein Geschenk, das es genauso bereitwillig zu nutzen galt wie Geschicklichkeit mit dem Schwert. Der Kern ihrer Macht lag jetzt in ihrem Verstand, ihren Gedanken, und in ihrer Fähigkeit, andere dank ihrer Klugheit, die sie hinter einer gefälligen Fassade verbarg, zu überlisten. Sie war nie die geistlose hübsche Hülle gewesen, für die so viele sie gehalten hatten. Es hatte einfach nur einer Menge Zorn bedurft, um schließlich jene Talente zu wecken, die sie so lange ungenutzt hatte schlafen lassen. Diesen Zorn verdankte sie Hanish Mein. Auf ihre eigene Weise erinnerte sie sich täglich daran.
In einer Ecke ihres Schreibtischs lag ein Brief von dem Weingut auf Prios, in dem stand, dass die Weine fertig waren. Sie würden gern damit beginnen, die großen Mengen herzustellen, die die Königin in Auftrag gegeben hatte. Sobald das zuzusetzende Mittel bei ihnen eintraf, würden sie anfangen, den Wein in Flaschen abzufüllen. Gut, dachte sie. Ihre Untertanen waren schon zu lange wach und klarsichtig. Corinn wusste, dass sie zu murren begannen, und das aus gutem Grund.
Das Dokument, das sie gerade studierte, war der letzte der von ihr in Auftrag gegebenen Berichte darüber, wie es um die Landwirtschaft im nördlichen Talay bestellt war. Er zeichnete ein düsteres Bild. Während die Mitte von Talay schon immer unter Wassermangel gelitten hatte, war das Wetter im Norden gemäßigter gewesen. Meeresströmungen und Winde hatten genug Feuchtigkeit gebracht, damit das Land fruchtbar blieb, gut geeignet für den Anbau von Getreide, Obst und Gemüse. Feldfrüchte, die bei den schwimmenden Händlern gegen Waren von rund um das Innenmeer und sogar vom fernen Vumu-Archipel eingetauscht werden konnten. Diese wiederum wurden nach Süden geschickt, in die Zentralgebiete Talays, die eigene Erzeugnisse in Form von Vieh und zahlreichen Erzen zu bieten hatten. So hatte generationenlang ein Gleichgewicht aus Ackerbau und Handel geherrscht.
Doch
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